Ich kann mir auch während der Lockdown Stimmung so gut vorstellen, wie es im Dritten Reich war. Wie die Angst immer tiefer in die Menschen kroch, wie sie durch das plötzliche Verschwinden von jüdischen Nachbarn weiter angeheizt wurde, wie jeder in sich selbst hineinschaute und sich fragte: Bin ich bedroht? Ist mein eigenes, kleines Leben in Gefahr? Oder kann ich einfach so tun, als wäre nicht? Kann ich einfach verdrängen, was ich ahne, dass etwas mit absolut gar nicht rechten Dingen zugeht? Kann ich mich einfach weiter aufs nächste Frühstück oder Mittagessen konzentrieren, darauf dass mein Kühlschrank voll ist und meine Kinder satt werden? Wozu brauche ich mich mit den absurden Reden der Politiker zu befassen, mit dem Gebrüll von Hitler aus dem Lautsprecher, mit den hysterischen Angstparolen seiner Gegner? Einfach ducken und weiter leben, so lange, bis aus dem Leben ein Vegetieren wird. Bis meine Kinder abgeholt werden von der Armee und in den Kriegstod geschickt werden. Bis ich einen blauen Brief erhalte: Ihr Sohn ist fürs Vaterland gefallen.
Erst dann wird es nicht mehr möglich sein, zu verdrängen, weil auch mein Kühlschrank nicht mehr voll ist. Weil die Demütigungen von oben immer deutlicher, immer unausweichlicher werden. Erst dann werde ich verstehen, warum manche das Land verlassen haben, als es noch ging.
Ich kann mir vorstellen, wie es war, damals in den leeren Straßen, so leer wie heute, die Menschen drinnen in ihren warmen Wohnungen. Ausgangssperre, dieses unschöne Wort, das an Krieg erinnert. Ach, vergessen, verdrängt, verschoben, solange noch Lebensmittelgeschäfte geöffnet haben, und man Feinkost an Weihnachten essen kann. Solange der Bäcker noch Brötchen backt, dann kann man doch einfach so tun, als wäre nichts. In meiner kleinen Welt, so haben sicher die Menschen auch im Dritten Reich gedacht, als die SS auf den Straßen marschierte und am Tag der Machtergreifung Fahnen aus den Fenstern gehisst wurden, in meiner kleinen Welt ist doch alles wie immer. Ich habe nichts gegen Juden und ich würde ihnen auch nichts tun.
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