Ich sehnte mich oft danach, noch tiefer zu empfinden. Und stand wieder und wieder vor ihrer Tür.
Begonnen hatte es, weil sie sich meiner angenommen hatte und auf der Ebene der Sinnlichkeit war sie, was Margarete, unsere gemeinsame, verstorbene Freundin, auf der menschlichen Ebene gewesen war. Und nun fühlte ich, die Suchende, eine unvollkommene Liebe, deren Vollendung ich womöglich mehr ersehnte als sie, die Wissende. Ja, wirklich, kein Mann, der um mich warb, konnte dies in mir bewirken und dass ich verwirrt war, trieb mich nur öfter in ihre Arme, Hände, Lippen. Wir taten Dinge, die Liebende tun, und solche, die nur jene tun, die mehr wollen, Dinge, die ihr vertrauter waren als mir. Aber bei ihr hatte ich keine Angst, keine Scheu und keine Abscheu. Der Schauer der Erregung war gefühlvoller bei ihr als mit vielen meiner bisherigen Lieben und ihre Augen spiegelten eine warmherzige Stärke, nicht die erobernde Kraft. Wir buhlten darum, uns jede der anderen ganz zu unterwerfen und versuchten doch nur einander glücklich zu machen. Aber sie war die Geschicktere, wusste unbemerkt meine Wünsche zum Leitfaden zu machen, nahm sich immer zurück, indem sie die Führung übernahm und mich doch nur dorthin geleitete, wohin es mich zog.
In diesen Wochen der Sinnlichkeit konnte ich sie nur ein einziges Mal zu einem Restaurantbesuch überreden. Sie war charmant und nicht nur mein Star des Abends. Obwohl nicht auffällig gekleidet, wirkte ihre Aura und die Blicke vieler Männer wanderten zu unserem Tisch und hin und her von ihr zu mir und zurück. Sie wies mich genussvoll auf diesen Umstand hin, nicht damit ich es bemerkte, sondern einfach, um es auszusprechen, damit die Befriedigung, begehrt zu werden, noch zunahm. Wir kicherten ohne jeglichen Spott und als wir aufbrachen, mussten wir tatsächlich noch Avancen für den angeblich noch jungen Abend zurückweisen. Nur wenige Male kam sie mit in meine Wohnung, und sie gab mir keinen Anlass zur Verstimmung. Aber ich wurde unsicher und spürte, dass unsere Welten doch sehr getrennt waren. Sie schien zu wissen, was in mir vorging und tat genau das Richtige. Sie hakte mich unter, zog mich zur Tür und wollte shoppen gehen, so richtig einfach wie Freundinnen. Sie vertrieb meine Trübsal und der Nachmittag war heiter und unbeschwert. Im Café, als wir einige Zeit schweigend saßen und sie die Umgebung musterte, studierte ich sie.
Ich musste akzeptieren, dass ich in ihre Arme flüchtete und nicht sie in meine. Und mir wurde klar, dass genau das auch der Grund war, warum ich so fühlte. Denn wäre es anders gewesen, hätte ich sie abgewehrt wie die Männer, vielleicht heftiger noch. Dass es so war wie es war, war die glückliche Fügung. Dafür empfand ich Dankbarkeit und fast hätten sich Tränen der Rührung in meine Augen geschlichen. Sie bemerkte, wie meine Augen auf ihr verweilten, stellte aber nicht diese unsägliche Frage, die Liebende viel zu oft stellen und den Moment zerstören, nämlich, was denn sei. Sie wusste, was war und sie ließ es einfach zu. Dort im Café wurde mir bewusst, was ein Engel ist, diese fleischliche Verkörperung eines überirdischen Ausmaßes von Warmherzigkeit, Liebe, Menschlichkeit.
Sie war meine Götterbotin.
Agnes und ich
Tinas Geschichte - Teil 23
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Agnes und ich
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