Ahrweiler – Teil I

oder: das Buch des Lebens

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Ahrweiler – Teil I

Ahrweiler – Teil I

Gero Hard

Prolog: Die Basis und die Bilder zu dieser Geschichte, wurden uns leider oft und lange durch alle möglichen Medien schmerzlich vor Augen geführt. Leider könnte sie so oder ähnlich tatsächlich passiert sein.

Das weiß ich allerdings nicht, denn diese Story hat keinen realen Bericht eines Feuerwehrmannes als Grundlage, sondern ist ausschließlich meiner ausschweifenden Fantasie entsprungen.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen, Namensgleichheiten und/oder ähnlichen Geschehnissen, sind rein zufällig. Bei Betroffenen oder jene, die sich unangemessen berührt fühlen, möchte ich mich im Vorfeld entschuldigen, wenn sie mich für pietätlos halten.

Das Einzige was wirklich existiert, ist der Ort … Ahrweiler.

Ich glaube nicht an eine Wiedergeburt der Seelen. Was aber nicht heißen soll, dass es sowas nicht vielleicht doch gibt.

Aber ich bin der festen Meinung, dass jeder Mensch so etwas wie sein persönliches Buch des Lebens hat. Es ist wie ein Drehbuch für unser Dasein. Ich habe natürlich keine Ahnung, wer so etwas schon wissen kann, bevor wir geboren werden. Ich stelle mir vor, dass darin steht, wohin wir geboren werden, welche Schul- und Ausbildung für uns vorbestimmt ist, welche Partner wir haben werden, unsere Gesundheit bzw. Krankheiten, Glück und Leid, wie alt wir werden und auf welche Art wir früher oder später sterben werden.

Selbstverständlich steht dort auch, welche Schicksale wir erleiden und erleben werden.

Ich möchte gar nicht wissen, welche Geheimnisse MEIN Buch für mich bereithält. Sicher würde es mein Handeln nachhaltig beeinflussen, wenn ich den Verlauf meines Lebens schon vorher erfahren würde. Wie gesagt, davon bin ich fest überzeugt.

Und wenn mir jemand orakelt hätte, was mir in den vergangenen Wochen passiert war, ich hätte es ihm nicht geglaubt und ihn für verrückt erklärt.

Selbst, wenn ich vielleicht vorher noch an persönlicher Vorbestimmung gezweifelt hätte, hätten mich die Erlebnisse dieser Wochen eines Besseren belehrt. Denn nun bin ich sogar ganz sicher, dass es vorbestimmte Schicksale gibt …

Kapitel 1

Der Funkmeldeempfänger, unter Feuerwehrleuten kurz „Pieper“ genannt, eskalierte auf meinem Schreibtisch und schrie mir seine schrille auf- und abschwellende Tonfolge mit einer markerschütternden Lautstärke entgegen. Und dann ertönte daraus eine mir nicht persönlich bekannte Stimme: „Amtshilfeeinsatz Ahrweiler!“

Diese Nachricht traf mich als Gemeindebrandmeister der örtlichen Feuerwehren nicht unerwartet. Schon Tage vorher hatten wir innerhalb der Wehren um Freiwillige geworben, die an einem Einsatz in dem vom Hochwasser gebeutelten Gebiet teilnehmen wollten. Solche Einsätze waren in der Regel freiwillig, wobei eventuelle Verdienstausfälle von der Gemeinde ausgeglichen wurden. Jetzt war die Truppe also vollständig und zusammengetrommelt worden. Nun konnte es losgehen!

Ich war selbstständiger Grafikdesigner und hatte meine Büroräume in einer Einliegerwohnung im Keller meines Hauses eingerichtet. Längst waren meine vier Mitarbeiter eingeweiht und wussten, was in den nächsten zwei oder drei Wochen ohne mich zu tun war, während ich im Krisengebiet meinem Ehrenamt nachkommen würde. Auf mein Team konnte ich mich blind verlassen. Auch wenn es zwei Frauen und zwei Männer waren, die für mich arbeiteten, konnte ich mir sicher sein, dass es zwischen ihnen kein Rudelbumsen geben würde. Und selbst wenn, sollte es mir egal sein, solange sie ihre Arbeit erledigten. Was sie in ihrer Freizeit miteinander machten, ging mich nichts an, solange das Betriebsklima nicht darunter litt.

Ich selbst würde nie etwas mit meinen Mitarbeiterinnen anfangen. Das hatte ich mir schon geschworen, als ich sie einstellte. Beide waren etwas jünger als ich und sehr gelungene Vorzeigemodelle der Spezies ‚Frau‘. Schlank, sportlich, tolle Haare und traumhafte Körper mit allem, was Mann und Kind sich so wünschte. Und das auch noch an den richtigen Stellen.

Ganz sicher hätte ich bei beiden durchaus Chancen gehabt. Ihre Blicke verrieten sie und die Art und Weise, wie sie neben mir standen, wenn sie Projekte mit mir besprechen mussten.

Zufälliges Anpressen ihrer Brüste an meinen Armen, unauffälliges Ablegen ihrer Hand auf meiner, wenn sie auf dem Schreibtisch lag oder auch mal ein verführerisches Augenzwinkern. Wenn es ganz schlimm wurde, wurden BH‘s weggelassen, der berühmte Knopf zuviel an der Bluse offengelassen oder die Röcke der Damen wurden derart kurz, dass einem buchstäblich das Taschenmesser in der Hose aufging oder was auch immer dann dort hochklappte. Dann folgte in der Regel meine kurze Ansage zum Thema Dresscode und alles war wieder für eine Weile gut.

Aber nein, das brächte nur unnötige Probleme mit sich, wenn ich mich auf ihre offensichtlichen Avancen eingelassen hätte. Ich überließ es gerne meinen männlichen Mitarbeitern, sich um den Hormonhaushalt der Damen zu kümmern. Obwohl ich wusste, dass alle meine Angestellten mit jeweils anderen Partnern verheiratet waren. Aber sie waren alle alt und groß genug, um zu wissen, wo ihre Grenzen waren.

Gestatten, mein Name: Florian Göllner. Wohnhaft, in einer, im südlichen Umland von Bremen liegenden, etwas größeren Gemeinde. Mein Alter: 31 Jahre alt, sportlich schlank und meine 88 kg auf 187 cm verteilt.

Ich war kein Single aus Überzeugung, aber leider eben doch Single, mit allen Vor- oder Nachteilen.

Früher hatte ich schon ein paar festere Beziehungen, die aber meistens aus beruflichen Gründen gescheitert waren. Es ging eben viel Zeit dabei drauf, wenn man sein eigenes Business aufbauen wollte. Dazu noch die vielen Dienste und Fortbildungen bei der freiwilligen Feuerwehr. Da blieb unterm Strich nicht mehr viel Freizeit übrig.

Zusammengenommen zerrann die eh schon knappe Freizeit zwischen den Fingern und meistens dauerte es nicht lange, bis es den Frauen zu wenig für eine erfolgreiche, langfristige Beziehung wurde.

Es fiel mir leicht, sie aus meinem Leben zu entlassen. Durch meinen beruflichen Stress waren sie alle schnell vergessen. Wahrscheinlich war es nicht mal richtige Liebe, die ich für sie empfunden hatte, sondern eher der angenehme Nebeneffekt, meine Lust ausleben und den Hormonhaushalt im Gleichgewicht halten zu können.

Nur eine meiner Freundinnen war mir bis heute im Gedächtnis geblieben. Imke Schubert. Wir waren seit dem

Gymnasium bis zum Abitur in einem Jahrgang und sogar fast zweieinhalb Jahre miteinander gegangen. Sie war es, die mir ihre Jungfräulichkeit geschenkt hatte und mit der auch ich mein erstes Mal erleben durfte. Vielleicht war es dieser besondere Umstand, der sie noch immer in meinem Kopf herumspuken ließ.

Sie war nicht nur meine Freundin, mein Mädchen, sondern auch gleichzeitig meine beste Freundin gewesen. Wir verstanden uns blind und vertrauten uns gegenseitig all unsere Geheimnisse an. Zwischen uns passte kein Blatt Papier, wie man so schön sagt.

Aber auch unsere Beziehung zerbrach letztendlich an den verschiedenen Hobbys und Interessen, den beruflichen Entwicklungen und an der dadurch fehlenden gemeinsamen (Frei)zeit.

Eine Zeitlang schrieben wir uns noch, was aber auch immer weniger wurde und schlussendlich irgendwann ganz ausblieb. Anfangs sahen wir uns noch gelegentlich im Dorf beim Einkaufen oder im Fitnessstudio. Aber von heute auf morgen war sie spurlos verschwunden. Lange hielt ich immer wieder Ausschau nach ihr, aber leider erfolglos.

Natürlich hätte ich ihre Eltern nach ihr fragen können. Aber ich wollte sie ihr Leben leben lassen. Und es ging mich ja auch nichts mehr an, schließlich waren wir kein Paar mehr. Imke … sie war vermutlich auch ein bisschen der Grund dafür, warum ich für die Frauenwelt keinen Blick mehr hatte und nahezu beziehungsunfähig geworden war.

Zusammengefasst: Mein Sexualleben lebte ich vorzugsweise mit mir selbst aus, selten mit Hilfe einer Professionellen und noch seltener mit einer irgendwo aufgegabelten Bekanntschaft, als Quickie in einer Restauranttoilette.

Schlechte Presse konnte ich mir nicht leisten. Mein Büro war weit über die Grenzen Niedersachsens hinaus bekannt für gute Grafikarbeit, vor allem im Bereich Werbung. Und diesen Leumund mochte ich für einen schnellen Fick nicht aufs Spiel setzen. Nichts und niemand kannte meinen Schwanz besser als meine rechte Hand und eine Gummimuschi, die große Ähnlichkeit mit einer Taschenlampe hatte. Aber, ich wusste, wie es ging und wo die sensiblen Stellen bei einer Frau waren. Und nein, ich war nicht schwul.

Mit einem „Ciao Leute, dass mir keine Klagen kommen…“, verabschiedete ich mich in Richtung Haustür. Hinter mir rappelten die kleinen Rollen meines Koffers über den Fliesenboden. Ich wurde am Gerätehaus von meinem Helferteam erwartet, dem ich vertraute und auf das ich mich im Ernstfall blind verlassen musste, aber auch 100%ig konnte.

Über die Jahre waren wir zu einer eingeschworenen Gemeinschaft geworden. Bei unseren Einsätzen hing oft das Leben eines Kameraden von der Zuverlässigkeit der anderen ab.

Kapitel 2

Die Fahrt ins Ahrtal zog sich endlos. Wir hatten uns mit den anderen Feuerwehrfahrzeugen zu einer kleinen Kolonne zusammengetan und waren froh, dass zu den sowieso schon zähen 368 Kilometern nicht noch endlose Staus dazukamen. Wir hatten eine Übernachtung auf einem Rastplatz eingeplant und dazu ein paar kleine Zelte im Gepäck, die auch in Ahrweiler als Unterkunft dienen sollten, falls es keine festen Unterkünfte für uns geben würde, wovon angesichts der aktuellen Lage leider auszugehen war.

Bei den letzten Kilometern vor dem eigentlichen Ziel konnte man in etwa erahnen, welche Unwetter hier gewütet haben mussten. Hier und da sahen wir unterspülte Straßen, umgestürzte Bäume, abgerutschte Hänge. Und je näher wir an unseren Einsatzort kamen, desto größer waren die Verwüstungen und Schäden. Kleine Bäche waren zu wütenden Strömen geworden und rissen schonungslos alles mit, was nicht niet- und nagelfest war. Uferböschungen waren längst nicht mehr zu erkennen. Weite Teile der Landschaft waren unter einer braunen Suppe verborgen, die sich ohne Rücksicht auf Verluste unbeirrt ihren Weg bahnte.

Ahrweiler lag völlig zerstört vor uns. Nichts war mehr von der einstigen Schönheit dieser Stadt, mit ihrem alten Charme übrig geblieben. Mit unbändiger Kraft hatte das Wasser gewütet. Herausgerissene Türen und Fenster, Berge von Bauschutt unterschiedlichster Art türmten sich überall. Nicht etwa feinsäuberlich sortiert, sondern wild durcheinander zusammengespült.

Eingedrückte Hauswände, teilweise eingerissene Fachwerkmauern, sogar ganze Häuser waren dem Erdboden gleich gemacht. Zu Kleinholz geschredderte Wohnwagen, aufgetürmte Fahrzeuge, verbeult, mit aufgerissenen Hauben und Türen. Alles überzogen mit einer dicken, schmierig-braunen Schlammschicht, die eher an skurrile Skulpturen denken ließ. Ganze Straßenzüge waren vernichtet worden. Fest gemauerte Wände zu Sand zermahlen. Auf den Straßen riesige Löcher, der Asphalt war vom Wasser mitgerissen worden. Für die Menschen unerreichbare Hauseingänge, weil das Wasser noch meterhoch in den Häusern stand. Ich sah Spielzeug, Puppen und Figuren an mir vorbeitreiben. Kleidung, die aus den Häusern oder von den Wäscheleinen weggespült worden war. Noch nie hatte ich solch zerstörerische Gewalten gesehen. Im Fernsehen, dort schon, zuletzt beim Jahrhunderthochwasser der Elbe. Unvorstellbare Einzelschicksale, Menschen ihrer Unterkünfte und Habseligkeiten von der Natur beraubt. Für mich dramatisch, einfach unfassbar. Ich war den Tränen nahe.

Wie versteinert stand ich mit offenem Mund auf einer Kreuzung und drehte mich langsam im Kreis.

Ich hatte mich dorthin gestellt, um mir einen ersten Überblick zu verschaffen. Aber es war unmöglich! Wohin ich auch schaute, überall Zerstörung, Chaos und unvorstellbares Leid.

Überall Menschen, die dreckverschmiert, scheinbar planlos umherirrten. Weinende Frauen und Kinder, verzweifelte Männer, denen nach vielen Stunden anstrengender Arbeit langsam aber sicher die Kraft ausging.

Auch nach Tagen waren noch nicht alle Angehörigen gefunden. Vermisst, vielleicht mit den Fluten fortgespült, oder unter meterdicken Schuttbergen begraben. Mir schossen die Tränen in die Augen. Wo um Himmelswillen sollte man hier anfangen? Wo war die größte Not oder wer brauchte die dringlichste Hilfe?

Ich schickte ein Stoßgebet in den Himmel und bat um Kraft. Auch dafür, die richtigen Entscheidungen zu treffen und das Richtige zu tun.

Der Leiter der örtlichen Feuerwehr kam zu mir, nahm seinen Helm ab und schüttelte mir die Hand zur Begrüßung.

„Euch schickt der Himmel!“, sagte er zu mir. Die Erschöpfung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

Die Pause, die sich durch unser Gespräch ergab, hatte er bitter nötig. Ganz sicher sahen seine Männer ähnlich müde und erschöpft aus, wenn nicht sogar noch schlimmer.

Sein Schutzanzug hatte seine ursprüngliche Farbe eingebüßt, verdreckt, teilweise eingerissen. Sogar die neongelben Leuchtstreifen waren an einigen Stellen kaum noch zu erkennen.

Der Einsatzleiter setzte sich auf einen alten Plastikkanister, der verbeult am Straßenrand lag und stützte sich mit den Ellenbogen auf seinen Knien ab. Mit beiden Händen fuhr er sich ein paarmal durchs Gesicht, so als würde er sich waschen. Dabei wollte er sich nur die Dreckbrocken von der Haut reiben, die auch seine Wimpern und Augenbrauen verklebten. Der Mann sah fürchterlich aus und ich wusste, spätestens morgen würden wir auch so aussehen.

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Subjektive Meinung

schreibt Thunders

"A cheap holiday in other peoples misery" sangen einst die Sex Pistols. Dieses Zitat kam mir ins Gedächtnis, während ich diese Geschichte las. Die Flutkatastrophe von Ahrweiler liegt noch kein Jahr zurück und ist in den Köpfen der Menschen noch präsent. Für meinen Geschmack taugt dieses Szenario nicht so recht für eine derartige Geschichte. Ich kann mir bildhaft vorstellen, wie es weitergeht mit dem potenten, heldenhaften Brandmeister und der hilflosen, jungen Frau, die er vor der Flut gerettet hat. Ich kann mit solchen dramatischen Liebes-Geschichten nichts anfangen, aber das ist mein persönliches Problem. Sehr gut geschrieben zweifellos. Von daher keine bösartige Kritik, sondern nur meine rein persönlichen Empfindungen.

Ahrweiler

schreibt franzl

Die Katastrophe von Ahrweiler, uns noch heute in unguter Erinnerung, die vielen Menschen großes Leid zugefügt hatte, darüber hinaus aber auch zahllose Beispiele menschlichen Mutes und Selbstaufopferung zeigte. Schon für dieses erste Kapitel einer zutiefst bewegenden Geschichte, ist dem Autor zu danken. Er versteht es wie nur wenige Autoren, damit die Seelen der Leser anzusprechen, sie einzubeziehen in diese Geschehnisse und uns mit wahrer Dramen-Qualität zu beschenken. Liebe Grüße Frajol.👍🍀

Gedichte auf den Leib geschrieben