I
Er öffnete die Tür und blieb wie angewurzelt stehen: Er sah den Yogi-Meister am Boden sitzen. Er schien völlig versunken zu sein, denn er reagierte nicht. Sein Blick war auf eine Frau gerichtet, die vor ihm leicht erhöht saß. Sie hatte die Schenkel weit gespreizt, so dass der Meister ungehindert auf ihre Yoni schauen konnte. Dieser Anblick, dieses Ziel seiner Versenkung musste ihn so in Beschlag genommen haben, dass er völlig abgetaucht wirkte.
Ralf erinnerte sich, diese Szene einmal in einem Buch gelesen zu haben, in dem ein Westeuropäer seine Einweihung in den kaschmirischen Tantrismus durch eine faszinierende Tantrika, die sich „Deva“ nannte, beschrieben hatte. Davon, was Gegenstand oder Hilfe in die Versenkung sein könnte, hatte Ralf schon einiges gehört oder es gar ausprobiert. Er persönlich bevorzugte die gegenstandslose Kontemplation. Eine Frau, das Allerheiligste einer Frau war ihm aber noch nie untergekommen. Vielleicht gerade deshalb vergaß er seine Lektüreerinnerung nicht.
Später war er in ganz anderem Zusammenhang auf das Gemälde „ Der Ursprung der Welt“ von Gustave Courbet gestoßen. Es zeigte den Körper einer Frau, die mit gespreizten Schenkeln auf dem Rücken lag. Unten war sie gänzlich nackt, über ihre Brüste lief der Rand eines hochgeschobenen Kleidungsstückes. Ihre rechte Brustwarze war zu sehen. Der kräftig dunkel behaarte Venushügel, zwischen dem die Lippen ihrer Vagina zu erkennen waren, zog alle Aufmerksamkeit an. Ungehindert konnte man auf den Übergang von Schenkeln zu Po und ihren Damm schauen. Das Bild hatte 1866 der türkische Diplomat und Kunstsammler Khalil Bay in Auftrag gegeben. Von ihm kam es zu einem Pariser Kunstsammler, dann über verschlungene Wege nach Budapest und schließlich in den Besitz des Psychoanalytikers Lacan, der es in seinem Landhaus unter einem anderen Gemälde verbarg. 1988 wurde es erstmals öffentlich gezeigt, einige Jahre später kam es bis heute in ein Museum in Paris. Ein verrücktes Bild. Kenner meinten vor einigen Jahren den Kopf der Frau identifiziert zu haben, die möglicherweise Akt gelegen hatte. Unwillkürlich fühlt man sich in das Bild und Motiv hineingezogen. Schon kommt man dem Yogi sehr nahe.
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