Anderthalb Tage eines alten Mannes

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Anderthalb Tage eines alten Mannes

Anderthalb Tage eines alten Mannes

Phillipp Marburg

Eine Kurzgeschichte von etwa 5000 Worten, für das Internet.

Von der Innenbehörde hatte ich einen Brief erhalten: „ … Sie haben als Führer Ihres Personenkraftwagens … die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten. … € 50,- …“
Das war am Vormittag gewesen und sollte am nächsten Tag überwiesen werden.
In der Nacht träumte ich, ich ginge mit dem Brief zur nächsten Revierwache, um den Betrag in bar zu zahlen. Die Wache war so, wie ich sie vor 40 Jahren kennen gelernt hatte: Das Publikum stand mit dem Blick zur Fensterseite hinter einem etwa brusthohen Tresen, der oben mit einer Schreibfläche abgeschlossen war. Auf der hellen Seite des Tresen saßen die Beamten des Reviers an Tischen. Beim Eintreten fiel mir dort der Kopf einer jungen Frau auf. Sie hatte wunderschönes langes braunes Haar und beugte sich über ihre Akten. Ich trat zu ihr heran und auf ihre kaum hörbare aber doch freundliche Frage nach meinen Wünschen gab ich ihr wortlos den Brief von der Innenbehörde. Sie las ihn flüchtig, und noch während sie ihn las, sprach sie mich an: „ Mit Ihrem Einverständnis können wir die Ordnungswidrigkeit auch durch eine Körperstrafe ahnden“. Ich schluckte und bekam Herzklopfen. Die Vorliebe zum Rohrstock hatte mir vermutlich meine Mutter vererbt und rechtzeitig geweckt. Aber mit weiteren Betrachtungen kam ich nicht voran, denn das Herz schlug mir bis zum Halse, und das musste die junge Frau gehört haben, denn sie las mir vor:“ Bei € 50,- sind das ein Dutzend Hiebe in klassischer Manier mit einem Rohrstock oder Rattanstock.“ Ohne nachzudenken, fragte ich, ob ich denn diese Abreibung gleich erhalten könne und von wem. „ Ja“, und „ von mir“ sagte sie. Damit warf sie ihren schönen Kopf mit dem braunen Haar zurück und strahlte mich an. „ Komm, sei kein Frosch. Das ist zwar kein Kinderspiel, aber Du überlebst es.“ Damit fasste sie mich über den Tresen hinweg an der Hand und führte mich zu einer grauen Stahltür am jenseitigen Ende des Raumes.

Wir standen in einem kleinen Flur und folgten seinen wenigen Stufen in einen im Souterrain gelegenen Raum von etwa 25 Quadratmetern Größe und drei Metern Höhe. Seine Fenster auf der linken Seite reichten bis zum Boden und die helle Vormittagssonne füllte ihn. Der Boden war mit weißen glasierten Tonfliesen belegt. Genau in der Mitte war eine kreisrunde etwa einen halben Meter große Fläche mit braunroten unglasierten Fliesen. Sie erinnerte mich an den Schuldstein bei den Benediktinern in Beuron

An der gegenüberliegenden Wand stand ein alter Küchenstuhl und rechts, gegenüber den Fenstern stand ein alter hölzerner Spind.

Ich zog mich vollständig aus und legte alle meine Kleider und die Schuhe auf und unter dem Stuhl ab. Dann stellte ich mich auf den Schuldstein mit dem Rücken zum Fenster und wartete. Der Stein fühlte sich freundlich und warm an. Er sog den Fußschweiß auf, der sich mir in der Aufregung bildete. Die Sonne wärmte mich von den Füßen bis in den Nacken. Die junge Frau stand barfuß vor dem geöffneten Spind und wandte mir ihren Rücken zu . Sie wickelte sich den rechten Ärmel ihrer olivfarbenen Baumwollbluse hoch und suchte dann im Schrank einen Rohrstock aus, fast einen Zentimeter dick und gut einen Meter lang. Sie fasste ihn ganz an einem Ende an und lies ihn heftig schwingen. Der Stock blieb dabei in einer Ebene und bog sich zu einem Drittelkreis zusammen. Sie schien zufrieden mit ihrer Prüfung, wandte sich nach rechts und führte einige Probehiebe aus. Dabei hielt sie den Stock locker, wie man einen Hammer hält, mit dem man den Nagel genau treffen will. Um den Nagel flott ins Holz zu treiben, schleudert man den Hammer im letzten Moment so ein ganz klein wenig in der Hand und zieht kurz vor dem Auftreffen etwas zurück. Der Hammer bekommt durch diesen Kunstgriff noch etwas Schwung. So machte sie das mit dem Stock. Dabei bog sich der Stock wunderbar. Ihre kleine muskulöse Hand fasste ihn sicher. Ihr auf dem Stock liegender Daumen steuerte und seine Spitze wurde vor dem Zuschlagen jedes Mal etwas weiß. Der Handrücken war glatt, leicht gebräunt und ganz fein von zwei Adern durchzogen.

Sie bot ein Bild zum Malen. Sie war etwa 35 Jahre alt, 1.85 groß und sicher nicht schwerer als 62 bis 63 Kilogramm. Ihre Beine waren lang, gerade, wunderbar muskulös und endeten in kleinen Tänzerinnenfüßen. Wenn man mit ihrem Hüftgelenk die Strecke von ihrem Scheitel bis zum Boden teilte, dann lag dieser Teilpunkt etwas über der Mitte. Hände, Füße und Kopf waren im Vergleich zur Körpergröße klein. Sie hatte die klassischen Aktmaße, wie sie uns alle Renaissancemaler zeigen, wenn sie griechische Göttinnen darstellen. Anselm Feuerbach zeigt sie uns auf seinem Kolossalgemälde mit dem Urteil des Paris. Dabei hatte sie wenig Taille, relativ kleine Brüste und breite Schultern und schien von einer beträchtlichen Gewandtheit und physischen Kraft.
Ich stellte sie mir nackt vor, wenn sie mir zum Malen Modell stünde. Das Licht müsste streifend von oben kommen, damit ich ihre Rücken- Bein – und Pomuskulatur plastisch sähe. Die kleinen Brüste, der sicher sehr dichte dunkelbraune Haarwust zwischen ihren Schenkeln und ihr schönes Gesicht blieben im Schatten. Jetzt kam das Licht platt von der Seite und beleuchtete ihren nackten Unterarm und die Hand mit dem Stock. Das Gesicht war ernst und konzentriert. Sie schien es gewohnt, einmal angefangene Dinge zu einem guten Ende zu bringen. Unter ihrer Führung würde ich mich sicher und wohl fühlen. Sie würde von mir - unter Umständen mit einiger Ruppigkeit - Leistung fordern und anerkennen. Aber sie würde mich nie fallen lassen oder hintergehen. Wenn sie mich aufgefordert hätte, mit ihr im Ruderboot den Nordatlantik zu überqueren, dann wäre ich ihr bedenkenlos gefolgt.

Jetzt hielt sie den Stock ruhig und blickte über mich hinweg aus einem der Fenster ins Freie. Die Sonne schien in ihre schönen grauen Augen. Kleine schwarze Punkte auf der Iris erinnerten mich an zurückkehrende Kraniche unter dem blassblauen Himmel über der See an der Westküste. Ich war dabei, mich in sie zu verlieben. Kinder wollte ich mit ihr zeugen. Ich wollte sie stützen und tragen, oder, mich von ihr stützen und tragen lassen, mit ihr gemeinsam ein Boot besteigen und sicher sein, dass wir alle Gefahren ohne Gesichtsverlust vor uns und vor Gott würden überstehen können. Mit ihr ein Kind zeugen, mit etwas Geduld und Geschick ginge das sicher noch.

Sie riß mich aus meinen Gedanken. „ Laß das jetzt lieber. Bück’ Dich.“
Ich drückte meine Knie durch und umfasste die Fußgelenke mit meinen Händen. Ein wenig wippte ich zurück und reckte dabei mein Hinterteil höher, bis ich bequem im Gleichgewicht stand, den Kopf zwischen den Armen. Sie trat links hinter mich, sodaß meine rechte Hinterbacke genau in der Reichweite ihres Stockes lag. Ihren Schatten sah ich, und wie sie ihren rechten Arm mit dem Stock hob, hoch, bis über ihren Kopf. Der Stock fuhr mit dem charakteristischen Pfeifton herab und traf mich mit einem hellen Knacken. Noch zweimal schlug sie in kurzer Folge zu. Ich dachte, ich hätte mich mit meiner Hinterbacke aus Versehen in flüssiges Blei gesetzt. Beim sylvesterlichen Bleigießen hatte ich mir mal etwas von der Schmelze über den Handrücken gegossen. So fühlte sich ihr Rohrstock an, ein greller und unmittelbarer Schmerz, der im ganz wörtlichen Sinne unter die Haut geht, weit in der Sättigung aller Schmerzempfindungen.

Ich kniff meine Augen zu und dachte nur ans Durchhalten. Das war so, als stemmte ich mich mit meiner ganzen Muskulatur gegen den Stock. Der ganze Körper war beteiligt.
Ich überlebte die Abreibung natürlich und – ich war kein Frosch. Ermattet und schweißnass blieb ich gebückt stehen, während die junge Frau den Stock in den Spind zurücktrug. Auf dem Weg dahin schlug sie noch einmal durch die Luft. Das Geräusch lies mich heftig zusammenfahren, als ob ich von einem weiteren Hieb getroffen wäre. Sie lachte :“ na, dann ist die Abreibung ja auch in Deinem Kopf angekommen“.
Sie kam zurück und stellte sich vor mich. „ es ist jetzt gut, stell’ Dich auf.“ Dann trocknete sie mir den Schweiß aus dem Gesicht und streichelte meine Stirn.

Sie sah mir beim Anziehen zu, öffnete mir eine Tür im Souterrain des Gebäudes und ich stand auf dem kleinen Parkplatz hinter der Wache.

So weit ging der Traum.
Aufwachen.

Nun aus dem Bett, Badezimmer, Anziehen, den kleinen Terrier ausführen, Frühstück und dann in’s Labor fahren. Die Familie war auf Golf - Urlaub in Portugal und schlug wohl bald auf einem Platz am Atlantik ab. Ob unser Sohn dort wieder ‚par’ spielt ?.

Der Traum hing noch in meinen Gehirnwindungen. Als alter Mann hat man ja weniger Scheu vor solchen Träumen, denn man vertraut auf den im Alter relativ stärkeren Verstand, der einen vor unbedachten Schritten sicher zurückhält. Auf der anderen Seite hält einen das Testosteron jung und gesund.

Mit solchen Betrachtungen erreichte ich das Bad und warf im Spiegel einen Blick auf meine rechte Hinterbacke. Ein fingerbreiter dunkelroter bis schwarzer Striemen, der von innen – oben nach außen – unten über den dicksten Teil des Pomuskels lief. „Du warst doch heute Nacht allein im Haus ?“ Da fiel mir mein Saunabesuch gestern ein, und die heiße sogenannten ‚Erdsauna’. An der Kante der oberen Bank hatte ich mir mein Hinterteil versengt, aus Unachtsamkeit und bei dem Versuch, jemand anderem im Halbdunkel auszuweichen. Die leichte Brandblase war dann sicher in der Kleidung aufgescheuert und hatte etwas geblutet.

* * *

Terrier ausführen, Frühlingsluft, 10 Uhr schlägt der Sohn in Portugal ab, im Wind des Nordatlantiks. Es gibt noch Paradiese.

Jetzt das Frühstück: Selbst gebackenes Sauerteigbrot, Butter, Schinken, Käse, reichlich schwarzen Tee und vorweg einen großen Haferpapp, al dente zubereitet.

Es schmeckt:

Was ist nun mit mir ? 40 Jahre kenne ich jetzt meine Margarethe. Damals, mit 25 Jahren, brauchte ich nur einige Minuten, um mich heftig und endgültig in sie zu verlieben. Das Eheversprechen, damals, am Rande einer mit Margeriten reichlich bewachsenen Wiese, gaben wir uns ohne Vorbehalte und Hintergedanken.

Wir waren hemmungslos glücklich. Die offizielle Heirat und die Gründung einer Familie kam erst nach Jahren, nach dem Abschluß unserer Examina. In der Hochzeitsnacht wollte Margarethe keinen Geschlechtsverkehr mit mir, sie habe Furcht. Ich fragte nicht nach, schob das Verhalten auf den Stress der Hochzeitsfeierlichkeiten, umarmte sie und wir schliefen schnell ein. Als wir später unsere erste eigene Wohnung bezogen, schien am Morgen die Sonne ins Wohnzimmer und dort waren noch keine Möbel, sondern nur eine große Matratze, auf der wir gemeinsam geschlafen hatten. Jetzt, beide nackt in der Sonne, liebten wir uns zum ersten mal. Hundert liebe kleine Finger streichelten mein jugendliches Glied in ihrer Grotte und wir kamen gemeinsam und sehr schnell zum Höhepunkt. Ähnlich verkehrten wir noch einige male, bis Margarethe schwanger wurde. Damit hatte das schöne Spiel ein Ende und ich lebe heute noch von der Erinnerung.

Margarethe war häufig unpässlich. Ich hatte Probleme, weil mir immer wieder das Bild unseres neugeborenen Sohnes vor Augen stand, wie er mit deutlich schmerzverzogenem Gesichtchen in der Klink in seinem Brutkasten lag. Die Saugglocke hatte ihm ein sehr erhebliches Geburtstrauma verschafft. Ich war damals täglich in die Klinik gefahren, um nach ihm zu sehen. Die Schwestern wollten mich wohl erheitern und stellten schon Ähnlichkeiten zwischen dem Jungen und mir fest. Margarethe ging nicht mit in die Klinik. Sie wollte lieber zu Hause bleiben und auf meinen Bericht warten. Heute ist unser Junge kerngesund , aber ich hatte mich damals wohl emotional übernommen.

Ich bin recht empfindlich. Schon früher, als Sportpistolenschütze, erschoß ich regelmäßig bei den Bauern meiner Heimat alte Hunde, wenn ich rechzeitig erfuhr, dass sie erschlagen werden sollten. Das wollte ich unbedingt verhindern. Ich sehe deren Blicke heute noch, wenn ich mit dem Revolver kam. Sie wussten, was ich vorhatte. Und nachts dann Albträume in Ozeanen von Blut.

Ich hätte jemanden gebraucht, der mir half. Margarethe war zeit ihres Lebens vom Bild ihres Vaters geprägt, der seiner Tochter natürlich nur die herkömmliche väterliche Seite seines Wesens zeigte, der wohl als Rheinländer auch glücklicher veranlagt war als ich Hesse. . Möglicherweise spiele ich für sie seit 35 Jahren diese Vaterrolle.

Als unser Junge zwei Jahre alt war, meinte die Nachbarin, nun müssten aber Geschwister herbei, damit wir im Alter nicht so alleine seien. Enkel hülfen über vieles hinweg. Recht hat sie gehabt, die gute Frau. Heute weiß ich, wie recht sie hatte

Doch statt erfülltem ehelichem Geschlechtsverkehr blieb mir nur die Masturbation. Man ist dabei recht alleine, lebt neben dem Partner her. Und heute streiten wir uns häufig. Sieht so das Alter unserer Lebensgemeinschaft aus ? Beten ? Ja, aber Gott ist so weit weg. Oder, er meint, dass ich diese Probleme alleine lösen muß, zumindest einen Versuch machen. Ignatius ? Beten konnte er, aber mit den Worten seines Jahrhunderts. Wenigstens war er ein erfahrener Praktiker.

Nun habe ich noch eine ererbte Neigung: Ich bin Flagellant. Aus Mangel an Partnerinnen habe ich mich meistens selbst geschlagen, seit der Zeit vor der Pubertät, bis heute. In der Jugendzeit tat das die Mutter. An ihren Ausspruch ‚Du braucht wohl mal wieder eine Abreibung’ erinnere ich mich noch, und auch an den blauen Himmel, der danach über mir war. So strahlend blau wie nach einer Abreibung ist er im späteren Leben nie mehr gewesen. Sie starb, als ich 13 war. Damals war ich sehr verzweifelt und betete zu dem Germanengott Wotan um Hilfe. „Wotan , hilf mir, ich bin verzweifelt.“ Die Worte habe ich noch im Kopf. Und die Eiche, unter der ich damals saß, habe ich neulich bei einem Besuch fotografiert.

Bei dem neuerlichen Anblick des Baumes wurde mir klar, dass der allmächtige Gott damals doch den kleinen verzweifelten Jungen gehört hatte. - Bin ich eigentlich ein weinerlicher alter Mann, weil mir bei dieser Erkenntnis die Freudentränen kamen ? Da fällt mir eine Geschichte ein: Der Wiener Verleger von Johannes Brahms berichtet, wie er einmal den Meister zu Hause antraf, als der auf dem Klavier phantasierte und dabei heftig weinte, ‚wie ein Schloßhund’. Als Brahms seinen Verleger erkannte, wischte er sich seine Tränen aus dem Gesicht und dem Bart und begrüßte ihn freundlich.
„Indianer weinen nicht“. Ja, für Indianer auf dem Kriegspfad man das gut sein. Aber auch für mich ? Brahms hatte offenbar keine Hemmungen, für sich alleine zu weinen, und seine Emotionen kennen wir aus seiner Musik.

Heute hätte mir meine Mutter wohl täglich eine Abreibung gegeben dafür, dass ich in die katholische Kirche eingetreten bin, aber das ist ein anders Kapitel. Sie hielt nichts von der Botschaft der Kirche, und der Hausaltar, an dem ich auf Weisung ihres Vaters rite getauft wurde, zeigte an der Stelle des Kreuzes ein Portraitbild von Adolf Hitler, ein Führerbild. Das Foto habe ich noch. „Ich schimpfe mich nicht ‚Christin’“ hat sie mir einmal gesagt. Eine ihrer Jugenderinnerungen erzählte sie mehrfach: Ein wohl pantomimisch begabter Freund in ihrem Bekanntenkreises pflegte zu vorgerückter Stunde den Priester beim Hochgebet und bei der Wandlung zu persiflieren, indem er sein Jackett mit der Rückseite nach vorne anzog und mit näselnder Stimme die Wandlungsworte auf Lateinisch sprach. Er war wohl ein entlaufener Priester und persiflierte sich selbst. Ich höre meine Mutter heute noch.

Eine Lederpeitsche habe ich von ihr geerbt, mit einem Silberknauf , der ein Wappenschild zeigt. Im Internet fand ich kürzlich eine solche Peitsche als leichten Kantschu oder Strafpeitsche für € 100.- angeboten. Meine Flagellanten - Gene kommen sicher von der Mutter. Die Lederpeitsche habe ich nicht mehr.

Ich las Ignatius’ Exerzitien, um nach Wegen aus meiner Aggression und aus dem dauernden Streit mit meiner Margarethe herauszufinden, Buch führen über die Anzahl der Streitereien mit Margarethe. Beten. Recht bald war ich an der Stelle, an der Ignatius rät, bei einem Zuchtmeister Hilfe zu suchen. Da wollte ich erproben, ob mir meine flagellantische Neigung eine Brücke baut. Ich suchte also eine junge Domina auf und bat um ein Dutzend schmerzhafter Rohrstockhiebe auf meine nackten Hinterbacken, um eine klassische Abreibung mit einem Rohrstock. Das Verfahren half. Der Himmel war blauer, die Anzahl der täglichen Streitereien ging von drei bis vier pro Tag auf eine pro Woche zurück, mit sorgfältiger Buchführung nach Ignatius. Welchem Teufel war ich damit auf den Leim gegangen ? Oder war es kein Teufel ?

Mein Frühstück war zu Ende und ich machte mich reisefertig.

Ich verabschiedete mich bis zum frühen Nachmittag von meinem kleinen Terrier, schloß das Haus ab und fuhr mit dem Wagen ins Labor. Ich bin wohl Rentner, aber so einige kleine Dienste beim ehemaligen Arbeitgeber und Lebensmittelpunkt sind noch geblieben. Darum heute die Fahrt.

Ausfahren aus unserem Wohngebiet, mit kräftigem Sprint Einfädeln in den Verkehr auf der Hauptstraße. Der kleine, handliche Wagen macht es fast von selbst, ahnt meine Gedanken, jedenfalls die im Kleinhirn.

Das Großhirn ist noch bei dem Traum, bei Margarethe in Portugal und bei meiner Lebensbilanz, in die ich als Strohwitwer geraten bin. Die Ampel zeigt Grün. Jetzt rechts um , auf die Ausfallstraße zur Autobahn. Johann Sebastian Bachs erste Sonate für Solovioline tönt aus dem Radio, von meinem Wechsler im Kofferraum. Was muß er für ein frommer Mann gewesen sein, welche intelligente Heiterkeit teilt er uns durch seine Kammermusik mit. Auch meine Gedanken ordnen sich etwas. Ich entspanne mich, werde heiter.

Sicher, Indianer weinen nicht, aber solchen und anderen Emotionen und Bedürfnissen einen sozialverträglichen Auslauf zu lassen, also im stillen Kämmerlein zu weinen, oder bei Menschen, die man sehr gut kennt, das ist sicher in Ordnung. Jemanden, bei dem ich weinen kann, habe ich nicht. Und meine Sache mit dem Rohrstock ? Eine Tracht Prügel ist kein großes Aufheben wert, sagte man in meiner Jugendzeit. Ungewöhnlich mag meine Neigung ja sein, aber das geht niemanden etwas an. Und Verletzungen dieser Größenordnung zieht sich jede Handballspielerin oder jeder Handballspieler bei einem heißen Ligaspiel auch zu.

Jetzt gleich bin im Labor. Ich trage wie früher einen Querbinder oder eine Fliege auf meinem Hemdkragen, damit mich meine alten Freunde leichter wiedererkennen. Ich schlüpfe schnell in meine Rolle als Fachkollege, aber auf seltsame Weise stehe ich gleichzeitig hinter mir und betrachte mich.

Der Mathematiker hat jetzt doch dem Maler platz gemacht. Der Maler malt natürlich wie ein Physiker, verständlich für den Betrachter und in einer Zeichensprache, die zum klassischen Kanon der Malerei gehört. Üben muß ich nur mehr, denn ‚Üben übt’. Rembrandt ist der große Fixstern in meiner Welt, insbesondere seine Portraitmalerei.

Nun bin ich wieder auf dem Heimweg über die Autobahn nach Norden. Die Gedanken schweifen voraus. Immer wieder diese Freude, wenn ich ein Portrait male und mein Modell sieht mich von der Leinwand her an. Jetzt, wenn ich nach Hause komme, will ich das angefangene Bild weitermalen, eine Jura-Studentin aus unserer Malgruppe. Diese Freude kann ich nicht weiter herleiten oder erklären. Bildaufbau, Spannung zwischen den Teilen des Bildes, Hell – Dunkel – Verteilung, all das gehört dazu, ist aber nur Hilfsmittel, um eine neue Person zu schaffen. Ich denke an Vermeers ‚Mädchen mit dem roten Hut’: Das ist ein neues Mädchen, das jedes Mal beim Betrachten in meinem Kopf entsteht. Alle Gesichter, die ich gemalt habe sind ein Teil von diesem Bild in meinem Kopf. Daß es mir mit meinen eigenen Bildern einmal ebenso gehe, das hoffe ich. Aber dazu muß ich eben üben.

Wo waren die Kreuzwege in meinem Leben ? Die Entscheidung zur Malerei, jetzt, nachdem ich im Ruhestand lebe, war sicher so eine Wegekreuzung. Auf dem anderen Weg hätte ich mich mit der alten Violine von meinem Urgroßvater geplagt.

Und einen ganz wichtigen Kreuzweg gab es vor unserer Hochzeit, als ich meine Margarethe erst ein paar Wochen kannte: Eines Abends wollte sie sich von mir trennen, ‚ich passe nicht zu Dir’ und ‚ Deine alte Freundin in München erinnert sich sicher noch an Dich’. Nach der war ich damals in München richtig krank. An dem Abend verließ ich meine Margarethe verwirrt und von Trennungsschmerz geplagt. Ich schlief unruhig in meiner Studenten- wohnung und am nächsten Morgen war die Verzweiflung nur größer geworden. Als ob ich wie bei einer Erkrankung nach einem Medikament suche, wollte ich beten, ob das vielleicht helfe. Das Vater Unser hatte ich vergessen, aber im Regal stand eine Züricher Bibel, noch aus den Zeiten meiner Beschäftigung mit Thomas Mann. Als ich sie aufschlug, fiel mein Blick unmittelbar auf Matthaeus Kap. 6, ‚Jesus lehrte seine Jünger beten …’ Ich erschrak bis ins Mark und fuhr herum, als ob jemand hinter mir stünde. Als ich mich gefaßt hatte, dachte ich: “Jetzt heißt es ‚nicht nur den Mund gespitzt, sondern auch gepfiffen.’“ Ich habe sorgfältig gebetet und anschließend den Studentenpater besucht. Das war mir eine ernste und vordringliche Sache. Ja, und von einem mehrwöchigen Gastaufenthalt bei den Benediktinern in Beuron habe ich den Vorsatz und die Gewohnheit mit genommen, nach der Regel des Hl. Benedikt einmal pro Woche alle 150 Psalmen zu beten, ziemlich genau nach dem Wochenplan, den er in seiner Regel vorschlägt. Seit dem stehe ich morgens eine Dreiviertelstunde früher auf als ‚eigentlich’ erforderlich. Jedesmal versuche ich, etwas von dem Gebetsgeist zurückzubekommen, den ich damals spürte, als ich vor 40 Jahren in Beuron zu früher Morgenstunde dem Chorgebet der Mönche zuhörte, als Glied der Kirche des Alten und des Neuen Bundes. Meine Kirche betet diese Psalmen zum Lobe Gottes schon seit 2500 Jahren. Und auch hier gilt für mich: ‚Üben übt’.

So, jetzt bin ich zu Hause und wende meinen Wagen in unseren Carport. Unser kleiner Terrier erwartet mich, hat meinen Wagen schon erkannt und jault seine Freude hinaus.

Einfach ohne vieles Nachfragen ein paar vernünftige Sachen regelmäßig tun.

Friedrich Nietzsche schreibt, niemand könne auf die Dauer auf der obersten Sprosse der Leiter der Erkenntnis ausharren. Eine Sprosse tiefer sei ‚vernünftig’. Für ihn war Erkenntnis ja immer auch Zweifel, und ich versuche, dieses Erbe aus seinem Jahrhundert zu verlassen. Die Sprosse tiefer ist für mich ‚das Tun von ein paar vernünftigen Sachen’. Für Nietzsche ist die Sprosse tiefer wohl auch einen Rang tiefer. Für mich ist es das nicht, und man kann, um in Nietzsches Bild zu bleiben, sich dort so schön mit dem Knie an die höhere Sprosse anlehnen. Ob Nietzsche das auch so gesehen hat ?

Aber was sind bei mir nun solche ‚vernünftigen Sachen’ ?
- Das Brevierbeten nach Benedikt ist sicherlich eine solche Sache, - das Buchführen über belastende Unarten, wie das Streiten mit Margarethe, - die Schläge mit dem Rohrstock auch ?

Vorgestern philosophierte meine Domina , welche Untaten ich denn wohl mit solchen schmerzhaften Hieben abbüßen wolle. Alte Flagellanten wie ich sind ihr wohl noch nie begegnet, denn die vertragen erheblich schmerzhaftere Hiebe. Einen roten Po nehmen sie mit Gleichmut hin. Bei meinem letzten Besuch hatte sie damit begonnen, mich auf ihrem ‚Strafbock’ mit kräftigen Rohrstockhieben und mit ihren sehr geschickten und kundigen Fingern zu stimulieren. Ich ‚kam’ wie noch nie in meinem Leben. Solchen Reiz kannte ich gar nicht. Wenigstens einmal richtigen normalen Geschlechtsverkehr schlug sie mir vor, nachdem ich Einzelheiten aus meiner Spannung mit Margarethe bekannt hatte.

Im Domina – Studio bleibt sozusagen ‚das Herz draußen’. Die Damen sind freundlich und gute Handwerkerinnen. Ich kann mich bei ihnen über sexuelle Dinge aussprechen. Zumindest hören sie mir vorbehaltlos zu. Ob sie mich verstehen, kann ich nicht sagen. Möglicherweise verstehen sie aber viel mehr, als ich vermute. Doch Verlieben, oder eine liebende Vereinigung , wie ich sie in meinem Traum auf der Polizeiwache meinte, das steht natürlich nicht im Konzept. Das ist gut so, denn mir wird auch so geholfen, und ich lasse mein Herz nicht da, nur eine angemessene Menge Geldes.

Wir leben nicht im Paradies, und nach 35 Jahren Masturbation bietet meine Domina ja vielleicht einen sozialverträglichen Lösungsweg. Mit meiner Urologin habe zum ersten Mal über sexuelle Dinge, die mich bewegen, sprechen können. Die Frau ist von gewinnender Liebenswürdigkeit und von erheblicher Intelligenz. Beides liegt mir sehr.

Und nun stehe ich zu Hause im Flur. Der kleine Terrier will sich draußen lösen, erwartet sein Fressen. Ich braue mir danach einen Liter Tee und male bis zum Abend. Bettina blickt mich von der Leinwand an.

Dann lege ich mich müde ins Bett und schlafe traumlos bis zum Morgen. Den Brief der Innenbehörde habe ich ganz vergessen. Und morgen kommen Frau und Sohn von ihren zwei Wochen Golfspiel aus Portugal zurück. Aber ich bin ein anderer geworden. Ob sie mich wiedererkennen ? Wir müssen uns sicher neu aneinander gewöhnen.

* * *
Ich fahre in den späten Nachmittagsstunden zum Flughafen. In der Tat kann man den Flughafen eigentlich nur aus der Luft erreichen. In dieser Beziehung soll er weltweit einzigartig sein. Aber dieser Spruch ist sicher ebenso weltweit verbreitet, denn Verkehrsstaus gibt es überall.

Die Ankunfthalle mit ihren undurchsichtigen Schwingtüren, auf die alle blicken. In wechselndem Takt lassen sie Reisende hindurch, die, mit Gepäck beladen, noch ferne Länder und ein leises Erstaunen über die Halle im Blick haben. Ganz hinten, zwischen zwei großen Türschwüngen für mich sichtbar, der Kopf unseres Sohnes und die liebe Hand Margarethes, die mich bereits erspäht hat.

Keine Zweifel mehr, welches Gesicht ich bei der Begrüßung aufsetzen soll, nach zwei Wochen Einsamkeit und Grübeln. Ich freue mich einfach und es ist mir wohl auch anzusehen. Meine beiden sind braun vom Wind des Nordatlantiks.

Es gibt offenbar noch einiges, das in unserer Ehe trägt. In Abwandlung von Ignatius werde ich mal für eine Zeit lang Buch führen über die Punkte, die mir an Margarethe besonders Freude machen.

Jetzt stehen wir vor einander und umarmen uns.

* * *
Einige Wochen später: Meine Margarethe hat wohl gespürt, dass ich mich von ihr entfernte und tat das Klügste, das sie tun konnte. An einem Abend im Bett klagte sie, zu frieren, und als ich ihr anbot, sie zu wärmen und zu ihr unter die Decke zu kommen, war sie ganz nackt. Wir haben einen wunderbaren Abend miteinander verbracht, wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Nun siind wir beide bald siebzig, aber unsere Welt ist doch recht im Gleichgewicht. Wenn ich jetzt meine Domina besuchte, dann wäre ich untreu, das will ich nicht.

Bleibt nur noch der Rohrstock, denn schlagen will mich meine Margarethe nicht.
Wie kam das ? Ist mein Gebet erhört worden ? Von allen Erklärungen, die ich versucht habe, ist das die konsistenteste Erklärung.

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