Trotzdem – entziehen konnte sie sich ihm nicht; Claudius Hufnagel war charmant – ganz anders als ihr eigener Mann. Sie stand auf, öffnete die Sicherheitstür und liess ihn herein. Hufnagel liess sich einen Kaffee anbieten und wartete im Back Office auf Annette, die erst noch den regen Schalterverkehr zu bewältigen hatte.
Nachdem er die Geschäftsabläufe geprüft und den Tresor kontrolliert hatte, lud er Annette an den Kaderabend ein. Er überreichte ihr eine schmucke Einladungskarte. Annette hatte von diesen kleinen Feiern, die mehrmals jährlich stattfanden, schon gehört. Es wurde getrunken, getanzt, gefeiert und gescherzt. Man lernte sich von einer andern Seite kennen und kam sich näher: Chefin und kleiner Beamter, Boss und Sekretärin, Personaladministratorin und Regionalleiter. Hinter diesen absolut unerotischen Bezeichnungen stehen ja Menschen, sei Dir das bewusst, lieber Leser!
Zwischendurch streifte Hufnagels Blick Annettes Pullover. Auch heute trug sie einen gut sichtbaren weissen BH. Wie würde es wohl sein, schoss es durch Hufnagels Hirn, wie würde es wohl sein, diese gewissenhafte, ehrliche und korrekte Frau mal ausgelassen zu erleben? Lasziv, geil, hemmungslos und tierisch?
Mit einem kräftigen Händedruck verabschiedete er sich. Annette war wieder allein. Allein mit den Kunden in der Warteschlange, allein mit Postsäcken, Speditionswagen und Abrechnungslisten. Wie ihr Mann Marvin auf die Einladung, die ausdrücklich nur an sie gerichtet war, reagieren würde? Ob da gar etwas Eifersucht hochkam?
Am Samstagabend pflegte sich Annette. Sie räkelte sich im Fenjalbad, behandelte bei dieser Gelegenheit ihre Füsse mit einem Bimsstein, wusch sich ihr kurzes schwarzes Haar und wies energisch ihre kleine Tochter Vera vor die Tür, die ihr beim Baden zusehen wollte. Schmollend verzog sich die 2 1/2jährige und forderte von ihrem Vater ein Märchen.
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