Die Wohngemeinschaft hatte ein eigenes Lokalkolorit. Sie lag an einer reich befahrenen Strasse, war man aber erst mal hinter den Sandsteinmauern, wurde es schon fast gespenstisch ruhig. Im Treppenhaus roch es nach Bohnerwachs, die Wände waren weissgelb gestrichen, und das Holzgeländer war abgegriffen, was ihm aber zusätzlichen Charme verlieh. Die Wohngemeinschaft erstreckte sich über drei Stockwerke. Zuunterst wohnte die Hauswartin, die, anders als man sich Hauswartinnen in aller Regel vorstellt, sanftmütig und nachsichtig war. Natürlich blieb ihr auch nichts anderes übrig, mit drei WG-Stockwerken über sich und einem Keller unter sich, in dem ebenfalls ab und an abgefeiert wurde. Die Kellergewölbe waren wuchtig und erinnerten an eine Zeit, in der sich Architekten noch Raum nehmen konnten – im Grunde so viel sie wollten. Es waren diese Keller, in denen Gurken, Konfitüre und Rumtopf gelagert wurden, es waren diese Keller, in denen Skiausrüstungen standen, es waren aber auch diese Keller, in denen sich gelegentlich jemand erhängte.
Pjotr war der einzige männliche Bewohner der Wohngemeinschaft – mit sieben Frauen teilte er sich Küche, Wohnzimmer, Waschmaschine, die Plattensammlung, die Bibliothek, nicht aber das Bett. Es galt das ungeschriebene Gesetz, dass Sex unter WG-Bewohnern tabu war – um den «inneren Frieden», wie Anna Frida sagte, zu wahren. Der erstrebenswerte Zustand eines Menschen sei der eines Edelgases, wie Neon, pflegte die Chemiestudentin zu sagen. Am Beispiel des Neon-Atoms erklärte sie, dass alle Atomschalen gefüllt und Neon somit inert sei. «In sich ruhend». Diesen Selbst-Zustand übertrug Anna Frida auf Menschen, begeistert sekundiert von Astrid, der Philosophiestudentin. Auch sie war der Meinung, dass Menschen nur dann harmonisch schwingen konnten, in Einklang mit der Natur, wenn sie den Zustand des inerten Neon-Atoms anstrebten.
Alle anderen Menschen waren Getriebene, ruhelose Wesen. I can’t get no satisfaction.
Anouk bückt sich
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Anouk bückt sich
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