Das Auge Gottes

2 5-9 Minuten 0 Kommentare
Das Auge Gottes

Das Auge Gottes

Schöne Spionin

„Dear hero imprisioned
with all the new crimes
that you are perfecting…”
Steven P. Morrissey

Wenn sie hoch blickt, erkennt sie einen glänzenden Streif am Ende der Wand, ein flüchtiger Spiegelreflex, der sofort aufgesogen wird von der Schwärze des toten Auges.

Es ist eine Kamera, die hundertste, ein totes Auge ohne erhellenden Geist dahinter. Abschaum dessen, was der alte Geheimrat Goethe seinerzeit als mechanistischen Tölpelkult bezeichnete, ein überschätzter Attrappenaufbau, der die Welt in ihrem äußeren Anschein wiedergeben, aber nicht verstehen will und kann. Eines von diesen toten schwarzen Kuhaugen, „Bull-Augen“ denkt sie ironisch, die wie ein Spalier ihren Weg durch die Schall abriegelnden Sicherheitstüren säumen.

Körperkontrolle, hämisch lächelt der ältliche Uniformierte unter seinem blitzenden Joch aus Stahl, als er sie mit anzüglichem Blick mustert und mit nur leicht kippender Stimme auffordert, ihre hohen dunkelblauen Pumps auszuziehen, da Metall im Absatz sein könnte.

Spielchen, wert zum Spielen. Widerstrebend und aufreizend zugleich, mit provozierender Langsamkeit zieht sie die Schuhe aus, gewährt dem alten Mann lächelnd einen Blick auf ihr wohlgeformtes Bein unter dem Kostümrock, nimmt die hohen Hacken in die Hand, passiert die elektronische Schranke und schlüpft sofort wieder hinein, schmunzelnd, erhobenen Kopfes.

Sie weiß, dass er noch drei Augenaufschläge lang hinter ihr her starrt, den Mund verzieht, „merde“ murmelt und sich verdrossen wieder unter dem Joch positioniert: ein missmutiger Fährmann der Kontrolle, eingefroren in der Eintönigkeit seiner Aufgaben, immer den gleichen Gang entlang schreitend, unter dem gleichen Bogen stehend, Tag ein, Tag aus.

Klappernd auf den Absätzen geht sie weiter, hallt in grotesker Verstärkung durch den blinden Gang, in dem sie allein ist, eine eintönige Melodie des Willens: klapp-klipp-klapp, verfolgt von den schwarzen Augen des Gebäudes, das ein Tier ist, ein schlafendes Tier mit tausend Facetten, wohlig ruhend in einem Schlaf, der kein Zustand, sondern fast ein Monument ist.

Es ist Lethargie geronnen zu Stein, Beton, Glas, Stacheldraht, ein erstickter, ins Innere gleitender Schrei: die schauerliche Architektur der Verdammten, die ihre Menschlichkeit verspielt haben. Bewacht von anderen Verdammten, in Grün, in Grau, mit müden Gesichtern, besucht von Satelliten wie ihr, externe Wissende – Codewort, Griff, eine schwere Glastür wird geöffnet.

Er ist da. Er wartet auf sie. Jeden Donnerstag wartet er auf sie.

Es ist etwas Beruhigendes um diese Wiederkehr des ewig Gleichen, dieses Treffen am gleichen Tag. Abreißende Blätter im Kalender, endlos herunter scrollende Bilder im Internet, huschende Trugbilder auf ihrer Iris, verwischt, alles vergeht, vergeht, vergeht, doch der Donnerstag bleibt, bleibt als Feuerspur in der sumpfigen Körperlosigkeit ihrer beider Leben, Zeit wie ein Strahl ins amorphe Nichts gesetzt. Wie sinnvoll, dass es ein Donnerstag ist, dass es alle Donnerstage sind. Donars Tag, Tag des Donars oder Wotan, Gott der Gerechtigkeit, Herrscher des Things, Hüter der gerechten Abstimmung, Donnerstag, der Tag der Abrechnung, dies irae.

Sie verlieren keine Zeit. Er ist ganz wachsame Männlichkeit, keine Bewegung entgeht ihm, die alerte Aufmerksamkeit des Hungers macht ihn überwach, wie unter Droge. Sie taucht sofort ein in seine – ihre – eine gemeinsame Welt, in den drei Quadratmeter großen Quader mit der suggestiv vergitterten Deckenluke. Es ist eine Un-Welt ohne Unterschiede, geschluckt vom Grau und Weiß der Wände, schonungslos aufgezeichnet vom funkelnden schwarzen Auge. Ein indifferentes Nichts, in dem sie nichts ist außer eine Frau, in dem er nichts ist als ein Mann.

„Ich habe dich erwartet“ sagt er mit gepresster Stimme. Sie lacht nervös, unfreiwillige Komik. Seine Hand unter dem Tisch hat ihren Rock längst geöffnet, wandert zwischen ihre schmalen Schenkel. Grobe Finger erzwingen ihre Reaktion. Sie hasst ihren Geruch in diesem Haus des Verrats: vanilleartiges Waldlaub, ein schwüles Parfum der Lust, das hier so fremd ist. Ein Blick auf den Gang hinter der verriegelten Glastür – niemand patrouilliert. Ihr Atem geht schneller.

Am Anfang, als sie ihm erstmals in diesem Raum gegenüber saß, vom freundlichen Kollegen vom Sozialdienst aufmunternd begleitet, waren ihre Begegnungen zaghaft. Als sie mit einer allzu starren Geste der Professionalität ihre Angst herunterschluckte, brach ihr Bild von ihm ein.

Sie hatte einen schwierigen Klienten erwartet – Neurose im gewöhnlichen Sinn. Ein Schwächling mit Minderwertigkeitsgefühlen, der aus Geltungssucht mit dem Gesetz in Konflikt kommt, Anomie und Narzissmus, und was dergleichen banale Deutungsversuche des Seminars mehr sind. Ihr Bild war klar: ein schmächtiger, vielleicht etwas hässlicher, nicht mehr junger Mann aus zerrütteten Verhältnissen, drop-out, ein Klassiker der Diagnose, leicht zu handhaben.

Doch beim ersten Blick aus seinen unter buschigen Brauen lauernden Augen, damals, zuckte sie innerlich tief zusammen. Sie war erschrocken von der vitalen Männlichkeit dieses Wesens, von dem ungebeugten Stolz, der aus den beherrschten Bewegungen sprach: das volle Gegenteil des Lebensuntüchtigen. Sie fühlte sich plötzlich verwundbar.

Und er ebenfalls. Als sie beim zweiten Besuch, hektisch in der Interviewtaktik forschend, den Faden verlor, ergriff er wortlos ihre Hand und erzählte ihr von seiner Angst, die Freundin seiner Schulzeit an einen anderen, größeren Jungen zu verlieren. Eine billige Manipulation, die sie natürlich sofort durchschaute und die sie trotzdem rührte, zweideutig, Wahrheit in der Lüge.

Ein Dialog über das Festhaltenwollen des Flüchtigen: mehr ist an diesem Tag nicht passiert. Sein instinktiver Drang, zu herrschen, Menschen durch Lüge zu beherrschen, ist ihr nicht entgangen, die klassische Wahrnehmungsverzerrung des Kriminellen, der den Intellekt seines Gegenübers unterschätzt. Und sie wusste: er verachtete auch sie. Doch die geteilte Einsamkeit blieb, formierte den Charme eines heimlichen Rendezvous auf dem Schulhof, Kindergedanken, Kinderängste teilend, diese verletzliche Komplizenschaft – Klassenfreund, Klassen-Feind.

Sie konnte ihn nicht mehr verdrängen. Sein Bild hatte sich eingebrannt, obwohl nicht wirklich schön, es war eine Faszination, ließ sie mechanisch und wie im Trance handeln. Eine lange Autofahrt durch den kühlen Regen, graue Strassen zogen vorbei, die Scheibenwischer zerteilten ihre Gedanken, die immer auf denselben Punkt hinaus liefen. Zuhause stolperte sie aus dem Mantel, ins Bad, noch halb angezogen, trieb einen Finger in ihre Weiche, bis sie sich pulsierend zusammenpresste, schmales Rinnen an der Innenseite ihrer Schenkel, verebbte. Zugleich in einer anderen Welt, Un-Welt, schoss eine schäumende Fontäne auf den grauen Boden der Zelle.

Dieser Donnerstag ist alle Donnerstage. Er hat geschafft, was kein Mann je vermochte: er hat etwas Bleibendes in ihr geschaffen, eine andere Zeitrechnung. Er und sie und dieser unwirkliche Raum, das ist etwas außerhalb der Zeit, dem gleichförmigen linearen Hinschnellen auf den Tod und den stetigen Verfall. Hier verfällt nichts, denn alles ist schon unlebendig, tot, aufgezeichnet vom allwissenden schwarzen Auge. Er und sie – niemals ein Wir – das ist das Andere.

Sie hat das Auge gefürchtet. Alles kann man umgehen – das Auge nicht. Geruch, nur eine flüchtige Sensation, so flüchtig wie das Leben in einem Augenaufschlag, das ist nichts, nichts. Geräusche, man braucht keine Worte, man kann auch im Schweigen lügen. Doch das Auge, Bull-Auge, es ist immer da, betrügerisch seinen Tod vorspiegelnd, seine Dysfunktion erhoffen lassend, Flüchtiges in alle Ewigkeit konservierend. Nur er, sein magnetischer Blick unter den Brauen und seine fordernden Hände unter dem Tisch, haben mehr Gewalt gehabt als das unerbittliche Register des Sichtbaren, haben immer wieder mehr Gewalt gehabt. Manchmal hasste sie ihn. Immer ist ihr schwindlig nach der Sitzung; die Atmosphäre des Raumes mit der vergitterten Dachluke, durchtränkt von seinem begierigen, zwei gespaltenen Ich, hat sie infiziert. Fieber.

Die Zeit ist um. Sie klingelt, ein metallisches Zirren, und ein gesichtsloser Wärter öffnet die Tür, begleitet sie wortlos in den Flur. Sie wird eine Rechnung schreiben. Sie dreht sich nicht um.

„Hier ist Ihr Pass, madame“ schnarrt der junge Beamte an die Pforte und reicht ihr mit leicht herablassender Geste, mit geübtem Griff ihren Ausweis, während sie ihm – geste de passage – die geschmacklose gelbe Besucherplakette aushändigt, Judenstern der Fürsorge, Ab-Zeichen für Gezeichnete. „Danke“ murmelt sie zerstreut, wie ertappt, jäh steigt ihr eine flammende heiße Röte ins Gesicht. Er und sie blicken sich nicht an, sie weichen gegenseitig ihren Blicken aus.

Im Hintergrund flimmert das Auge Gottes: hundert Überwachungskameras in zehn Reihen, ein grauweißes Gitter des Wissbaren, Sichtbaren, live aus allen Windungen des Tiers berichtend, schamlos, schuldlos. Auch er ist da, dritte Reihe rechts, auch hier ist er begrenzt, eingesperrt in ein Geviert von Leuchtröhren, zerfallend in brüchige Klötzchen von schwarzen und weißen Lichtsignalen, seine Gestalt ist geometrisch verkleinert, bizarr. Er sitzt noch dort, zuckt die Achseln, starrt die Wand an, steht abrupt auf und wendet sich wie taumelnd zum Gehen.

Die gnadenlose Aufzeichnung der Kamera verwackelt, schaltet sie um oder bleibt sie? – sie zieht spannungsvoll die Luft an, fühlt sich preisgegeben und ausgeliefert der seelenlosen Registrierung einer blöden Maschinerie. Doch das Auge Gottes gleitet weiter, von Wärmesensoren getrieben, mit dem Computergedächtnis des Mysteriums, weiter zum nächsten klopfenden Herz, zum nächsten Sterblichen im Labyrinth der gepanzerten Wände, durch die kein Laut dringt.

Die Aufnahme wechselt sprunghaft zum Flur, dem ewig gleichen Flur, über den gerade der ältliche Uniformierte schlurft, in sichtbarer innerer Unruhe wie Rilkes Tiger im Käfig, wahrscheinlich in Erwartung weiterer schönbeiniger Besucherinnen. Er wartet umsonst.

Der junge Beamte gleitet mit einem leeren Blick über die leuchtenden Monaden der Filmfenster, so als ob ihn nichts mehr überraschen könnte, nichts ist ihm fremd. Was hat er gesehen? Hat er überhaupt etwas gesehen, dieser Verwalter der indiskreten Insekten-Facetten, der jugendliche Kommandant des Gottesauges in seinem 0815-Pfortenbüro? Sieht er sie jeden Donnerstag?

Sie weiß es nicht und senkt den Kopf vor der innen verspiegelten Stahltür, wie benommen, drückt mühsam die massive Schwere auf, die Trennung von Innen und Außen.

Der junge Mann streicht nachlässig sein Hemd glatt und blickt fort, als sei sie schon nicht mehr da. Doch sie spürt seine Augen bohrend in ihrem Rücken, als sie die Schranke passiert.

Klicke auf das Herz, wenn
Dir die Geschichte gefällt
Zugriffe gesamt: 3952

Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen.

Gedichte auf den Leib geschrieben