Die Bahnfahrt

4 7-11 Minuten 0 Kommentare
Die Bahnfahrt

Die Bahnfahrt

Ralf Thomas

Ich hatte die Schnauze voll. Gestrichen voll. Wir hatten uns tierisch gezofft - meine Frau und ich. Wegen der Kinder. Wegen uns. Wegen was weiß ich. Wegen dem Alltag eben.
Ich rief im Büro an: "Durchfall", log ich, "bin Morgen wieder da."
Ich nahm mir einen Tag Auszeit. Zum Abschalten. Zum Luft holen. Einmal Durchatmen. Ich stand einsam und verlassen auf dem Bahnhof, hatte mir gerade ein Länderticket von der Bahn gekauft. Wollte nur in den nächsten Zug steigen und ein Stück weg. Abstand gewinnen. Bis heute Abend.
Die S-Bahn fuhr ein. Die Rush-hour war bereits vorbei, der Zug fast leer. Ich warf meinen Rucksack in die Gepäckablage, ließ mich auf den Sitz fallen und starrte gedankenlos zum Fenster hinaus. Hinter dem Fenster lief ein Film, erst langsam, dann schneller. Farben, zu langen Linien verzogen, strömten an mir vorbei. Verfestigen sich wieder zu Konturen. Der Film hielt an. Auf dem Bahnsteig standen nur wenige Leute. Ein junges Mädchen. Halblange, seidig braune Haare tanzten mit den Spitzen auf ihren Schultern. Ein schneeweißes, bauchfreies Shirt betonte ihre schlanke Figur, die knackige Wölbung darunter hob den Stoff etwas von ihrem Bauch ab. Ein enganliegender Jeans-Mini gab die Sicht ab der Mitte ihrer Oberschenkel auf wohlgeformte, schlanke Beine frei.
Sie entschwand meinem Blick, hinter mir schlugen die Türen zu. Im Fenster begann es wieder zu flimmern. Der Film setzte sich fort. Grüne Punkte hüpften vor dem blauen Hintergrund auf und ab. Etwas stieß gegen meinen Fuß.
"Oh, Entschuldigung." Der Klang einer Elfe schwebte zu mir herüber. Ich kam wieder zu mir. Ein junge Frau bückte sich, langte nach ihrer Handtasche, die zwischen meine Beine gefallen war. Einen Augenblick lang öffnete sich das Shirt in einer Falte nach unten, offenbarte junge, feste Brüste, die durch einen Push-up BH künstlich nach oben gedrückt wurden. Sie sah mich verlegen an.
"Keine Ursache" entgegnete ich ihr erstaunlich ruhig.
Sie saß mir schräg gegenüber. Ich musterte sie aus den Augenwinkeln, der Film draußen war völlig uninteressant. Es war die Schöne vom Bahnsteig. Doch schon eine junge Dame mit richtig weiblichen Zügen. Sie mochte ungefähr siebzehn Jahre alt sein, etwas älter als meine jüngste Tochter. Unsere Blicke trafen sich immer wieder. Scheu. Lächelnd. Verlegen. Anmutig. Ich kam mir vor wie ein Teenager. Und hätte doch ihr Vater sein können. Sie hatte etwas faszinierendes an sich. Wirkte selbstbewusst, zerbrechlich, angriffslustig, stolz und unsicher zugleich. Spielte sie mit mir? Wollte sie mich anmachen? Um dann triumphierend an der nächsten Station einen älteren Typen kurz vor dem Herzinfarkt im Zug zurück zu lassen? Ein lustiges, grausames Spiel?

Klicke auf das Herz, wenn
Dir die Geschichte gefällt
Zugriffe gesamt: 6254

Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen.

Gedichte auf den Leib geschrieben