Bahnhofsmilieu

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Yupag Chinasky

Wie sie da stand, eine selbstbewusste Autorität ausstrahlend, hätte man sie nie und nimmer für eine Nutte gehalten, schon gar nicht wegen ihrer Kleidung. Sie trug eine dunkle Bluse mit langen Ärmeln, ohne den Hauch eines Ausschnitts, ja ohne dass eine nennenswerte Basis hierfür vorhanden gewesen wäre, ihr Busen war jedenfalls nicht besonders auffallend oder gar provozierend. Noch nicht einmal wegen ihres sehr kurzen Minirocks und der schwarzen Leggins wäre sie als halbseiden aufgefallen. Sie sah durchaus seriös aus, wie eine Geschäftsfrau, die in einem unkonventionellen, vielleicht in einem künstlerischen Bereich tätig war. Die in einer kreativen Designerfirma oder als Empfangsdame in einem kleinen Themenhotel oder als Verkäuferin in einer Modeboutique arbeitete. Sie unterstrich diesen Anschein der Seriosität noch dadurch, dass sie seltsamerweise schwarze Netzhandschuhe trug, die ihm erst jetzt auffielen. Als er sie im Schummerlicht des Boudoirs genauer taxierte, um zu erfahren, auf was er sich da eingelassen hatte, fiel ihm weiter auf, dass ihr leidlich hübsches Gesicht dick, wenn auch recht kunstvoll, geschminkt war und dass es dadurch einen starren, maskenhaften Ausdruck angenommen hatte. Er meinte auch zu erkennen, dass ihre langen, schwarzen Haare nicht ihre eigenen waren, irgendwie waren sie zu perfekt, es musste eine Perücke sein. Und er nahm einen Duft war, der zwar angenehm, aber doch schon leicht penetrant wirkte, das einzig Aufdringliche an dieser Frau.
Als er so da stand und sie anstarrte, war er sich nicht sicher, ob er eher enttäuscht oder doch lieber angenehm berührt sein sollte. Enttäuscht, dass sie ihn so gar nicht anmachte, dass sie alles andere als eine „femme fatale“ war, keine geborene Verführerin. Erleichtert, dass sie all das gerade nicht war, dass sie wie eine Frau wirkte, mit der man ins Theater ging oder die man vom Elternbeirat kannte.

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Gedichte auf den Leib geschrieben