Bahnhofsmilieu

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Yupag Chinasky

An manchen Fenstern sind die Vorhänge zugezogen, ein Zeichen, dass die Damen beschäftigt oder abwesend sind, aber es gibt immer, zu jeder Tages- und Nachtzeit genügend Fenster, die offen sind.

Die Frauen sitzen meistens nur untätig herum und warten auf Kundschaft. Sie klopfen an die Scheiben, wenn ein Mann vorbeischlendert und hungrig, geil oder neugierig zu ihnen hinschaut. Sie öffnen dann schon mal das Fenster, rufen schmeichelnde Worte, schäkern, wenn der Freier zurücklacht, schimpfen, wenn er sie ignoriert. Manche unterhalten sich, oft sehr lautstark, von einem Fenster zum anderen. Es sind nicht nur Komplimente, die sie austauschen, auch hier herrscht Konkurrenzkampf, auch hier geht es um das Überleben. Manche sehen fern, andere haben die kleinen Kopfhörer ihres MP3-Players im Ohr. Es gibt sogar welche, die lesen oder stricken, während sie warten, stundenlang warten, tagelang warten, immer warten. Es ist ein Warteberuf, in dem sie gelandet sind.

Wenn er bei seinem Herumstreunen durch das Viertel die Straßen mit den bunten Lichtern aufsuchte, an den Fenstern entlang streifte, die Frauen taxierte, Desinteresse heuchelte, Gespräche und Annäherungsversuche abblockte, geschah dies vor allem, um die ungewohnte, exotische, leicht verruchte Atmosphäre aufzunehmen. Ihn reizte der Widerschein der farbigen Lichter auf den Pflastersteinen, die Schatten der Männer, die von Fenster zu Fenster gingen, die Blicke der gelangweilt wartenden oder aggressiv fordernden Frauen, die Überraschungen, die sich boten, wenn man in die Fenster schaute. Sicher, er war ein Voyeur, aber vor allem war er ein Jäger und Sammler, ein Fotograf aus Leidenschaft, einer der für ein gutes Motiv, für ein reizvolles Bild, für eine außerordentliche Szene, fast alles gegeben hätte. Aber nur einmal war er vor einem Fenster stehen geblieben, hinter dem eine besonders apart aussehende, schwarze Frau saß, und hatte seine Kamera aus der Tasche gezogen.

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