Bahnhofsmilieu

4 29-45 Minuten 0 Kommentare
Bahnhofsmilieu

Bahnhofsmilieu

Yupag Chinasky

Das Labyrinth

Der große Bahnhof war zu der Zeit, als er gebaut wurde, in den frühen fünfziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts, ein architektonisches und technisches Meisterwerk. Heute ist er weder schön noch funktional, aber immer noch eine wichtige Drehscheibe des Verkehrs. Die Freude an der nostalgischen Architektur, die sich einstellt, wenn man davor steht und die immer noch anhält, wenn man die große Halle betritt, wird von einer Beklemmung abgelöst, wenn man zu den Zügen eilt. Sie nimmt zu, je tiefer man in den Untergrund vordringt, bis zu der funktionalen Ebene, den Bahnsteigen und Gleisen. Jeder Meter abwärts auf den altmodischen, holzverkleideten Rolltreppen steigert dieses miese Gefühl. Der klaustrophobe Höhepunkt ist erreicht, wenn man den Perron betritt, das reinste Inferno. Die Röhren, in denen die Rolltreppen verlaufen, sind eng und schmal, aber die Bahnsteige erscheinen noch enger, noch schmaler, noch schmutziger. Man wundert sich geradezu, dass sich hier Menschen aufhalten dürfen. Der kreischende Lärm der Züge, die in kurzem Takt aus den Tunnelröhren kommen, rattern, abbremsen, nur wenige Augenblicke verweilen und dann wieder ächzend und stöhnend anfahren, malträtiert die Ohren. Die Schwärze der ewigen Nacht wird nur durch den Schein der kalten Neonröhren unterbrochen, die statische Spots auf den Beton werfen und durch die gelben Lichter der Lokomotiven und der Wagenfenster, die mit den Zügen auftauchen und wieder verschwinden. Die Sicht auf den Bahnsteigen wird von Treppen und Rolltreppen, schwarzen Gleisen, Oberleitungen, Stützpfeilern und Sichtblenden eingeschränkt. Es stinkt nach Staub, Ruß, Dreck, Desinfektionsmittel und Menschenmassen.

Zu den Stoßzeiten ist dieser Vorhof der Hölle von Hunderten von Menschen bevölkert. Sie laufen und rennen, schieben und stoßen, drängen sich in die Abteile, drängen sich auf die Rolltreppen, zerren Koffer hinter sich her und benutzen ihre vorgestreckten Aktentaschen als Waffe, um sich einen Weg durch die anderen zu bahnen, die genau dasselbe wollen. Jeder scheint nur einen Wunsch zu haben, weg von hier, raus aus diesem Chaos, diesem düsteren Orkus, hoch zum Licht und zur Luft oder wenigstens hinein in ein sicheres Zugabteil.

Oben, in der Bahnhofshalle, ist es in der Tat hell und erträglich und durch die Drehtüren strömt frische Luft herein. Hier kann man die nostalgische Architektur genießen, die kühnen Konstruktionen der damaligen Zeit, die lichte Höhe der Halle, das viele Glas in der Hauptfront, den Blick in Richtung Stadtzentrum. Auch wenn an manchen Stellen der Verputz von den Wänden bröckelt und die einstmals weißen Kunststoffpaneele der Decken gelb und schmutzig geworden sind, versteht man, warum dieses Gebäude Geschichte geschrieben hat, Architekturgeschichte. In der großen Halle kann man süße Waffeln kaufen, scharfe Würstchen essen, diverse Sorten Bier trinken, ja sogar an einem viel belagerten Stand Austern schlürfen – dégustation des fruits de mer. Es gibt Läden mit Blumen und Reisebedarf, Kioske mit Zeitschriften und Tabakwaren und einen Drogeriemarkt. Eine high-tec WC-Anlagen mit technisch ausgeklügelter Zugangskontrolle erscheint dagegen irgendwie fehl am Platz, vor allem wenn man sie mit den Schaltern für die Fahrkarten vergleicht. Richtige altmodische Schalter mit Glasscheiben, in deren Mitte ein kleines perforiertes Sprechloch ist und auf der Ablage ein Drehteller für den Austausch von Fahrkarten gegen Geld.

Die große Halle ist genau so voller Menschen wie die Bahnsteige, aber sie verteilen sich und es ist längst nicht so beklemmend wie im Untergrund. Nicht alle Anwesende sind Reisende. Die meisten gehen zwar zielstrebig in irgendeine Richtung, zu den großen Drehtüren, die ins Freie führen, zu den Rolltreppen in die Unterwelt, zu den Kiosken und Geschäften oder zu den Schaltern. Aber manche stehen nur herum und warten, auf irgendjemanden, auf irgendetwas, vielleicht auch nur auf eine günstige Gelegenheit, was auch immer günstig heißt. Es empfiehlt sich, auf sein Gepäck zu achten, auf die Handtasche, die schwarze Umhängetasche mit dem angebissenen Apfellogo und dem teuren Laptop darin oder auf den Geldbeutel in der Gesäßtasche. Die Vorsicht wird von Zeit zu Zeit bestärkt durch krächzende Durchsagen, die aus altertümlichen Lautsprecherröhren schallen und mahnen, keine Gepäckstücke unbeaufsichtigt stehen zu lassen.

Man sieht alle möglichen Leute, Menschen jedweder Couleur und Hautfarbe. Hier der Geschäftsmann im gestreiften, schwarzen Nadelanzug oder sein weibliches Pendant im gedeckten Kostüm. Und um den Bierausschank herum, eine Gruppe Touristen mit exotischen Kopfbedeckungen und Bergen von Koffern, die wohl direkt aus einem Urlaubsparadies gekommen sind. Zu Stoßzeiten bevölkern Massen von Pendlern die Halle, die rasch zum Arbeitsplatz oder noch rascher zurück nach Hause eilen. Die herumalbernden Schüler und die trödelnden Rentner scheinen es dagegen nicht eilig zu haben. Sie stehen herum, lungern herum, genauso wie manche unangenehme Typen in allen Stadien des sozialen Abstiegs. Sie betteln, schnorren ein paar Cent, indem sie vorgeben unbedingt eine Fahrkarte kaufen zu müssen oder klagen, dass sie schon, wer weiß wie lange, nichts mehr gegessen hätten. Junkies und Punks in abenteuerlicher Bemalung und exotischem Outfit sitzen in einer Ecke auf dem Boden, ihre Schäferhunde dösen und sie wechseln nur unwillig ihren Standort, wenn eine Polizeistreife sie auffordert, zu verschwinden.

Das Chaos des Untergrunds setzt sich fort, wenn man das Gebäude durch den Hintereingang verlässt. Während der Haupteingang den Weg direkt in das Zentrum weist, in das pulsierende, gepflegte Herz der Stadt, öffnet sich ein neues Labyrinth, kaum dass man den Hintereingang durchschritten hat. Man irrt durch Unterführungen, steigt auf schmalen Treppen hinab zur Ebene der Gleise und hinauf zur Ebene der Hochstraßen, die die Bahnhofsanlage überqueren, umrundet gewaltige, betonierte Pfeiler, kommt an Laderampen und Eisentoren vorbei. Schwach beleuchtete Tunnel scheinen ins Ungewisse zu führen, an ihren Wänden abgerissene Plakate, aber auch Streetart, Kunst an einem Ort, wo man sie nicht erwartet. An manchen Mauern haben sich die Künstler richtiggehend ausgetobt: anspruchsvolle Graffitibilder neben banalem Gekleckse, Schriftzüge mit politischen Parolen und Schlagwörter eindeutig sexuellen Inhalts. Verlässt man die unmittelbare Nähe des Bahnhofs, das Gewirr der Unterführungen, der Andienungs- und Verkehrstechnik, beginnt das Labyrinth der Wohn- und Geschäftsstraßen. Die Hausfronten sind heruntergekommen und hässlich, die Eingangstüren alt, die Briefkästen verlottert, die Türklingeln ein Wirrwarr, die Fenster aus billigem Glas mit altmodischen Klappläden oder ausgeblichenen Jalousien. Man geht an billigen Kneipen vorbei, trifft auf Ein-Euro-Läden und alle Arten von Billiggeschäften, sieht aber auch nostalgische Tante-Emma-Läden, kommt an heruntergekommenen Import- und Exportläden vorbei und gelangt schließlich in das Gebiet der Sexshops, Spielhöllen und Wettbüros. Man eilt auf schmalen Bürgersteigen an stinkenden Autoschlangen entlang, umrundet falsch geparkte Wagen, die den spärlichen Platz weiter verengen, steigt über Fahrradständer, die das Trottoir versperren und ekelt sich vor den schwarzen, manchmal aufgeplatzten Müllsäcken vor den Haustüren, willkommene Edelfreßlokale für Ratten. All die Straßen, Gassen, Sackgassen, Plätze, Einfahrten scheinen kein logisches Muster zu bilden, sie scheinen ohne Plan entstanden zu sein, eine kongeniale Fortsetzung des Bahnhofslabyrinths, dem man nur scheinbar entronnen ist.

Er kam berufsbedingt oft in die Stadt. Tagsüber hielt er sich in anderen Vierteln und anderen Kreisen auf und sein Stammhotel war ein nostalgisches, prächtiges Grand Hotel, mitten im Zentrum, in der guten Stube der Stadt. Aber auf dem Weg zum Flughafen musste er unweigerlich zu dem Bahnhof. Wenn es ging, nahm er sich die Zeit, um durch diese Labyrinthe zu streifen, sei es nur für eine Stunde oder, wenn er übernachten musste, auch einen Abend lang. Es war ihm ein Bedürfnis, die seltsame, abstoßende und zugleich faszinierende Atmosphäre in sich aufzunehmen und in Fotos festzuhalten. Das Bedürfnis war im Laufe der Zeit zu einer richtiggehenden Obsession geworden.

Das Fenster

Mitten in diesem heruntergekommenen Viertel, in der Nähe der Sexshops und der Wettbüros, liegen die Straßen mit den beleuchteten Schaufenstern. Die Lichter schimmern meist rot, aber auch blau, violett oder gelb und wenn es geregnet hat, spiegeln sich die Farben auf dem nassen Kopfsteinpflaster, das sich hier noch häufig findet. Das bunte Licht stammt von kurzen Neonröhren, die an den Fenstern angebracht sind, meistens horizontal am oberen oder unteren Rand, manchmal aber auch vertikal an den Seiten. Hinter den Fensterscheiben sitzen die Frauen auf Hockern, Lehnstühlen und sogar in Polstersesseln. Junge, alte, dicke, dünne, meist allein, manchmal zu zweit, manche hübsch, andere unauffällig. Einige sind richtiggehend hässlich und das bei diesem Beruf, der vom schönen Schein lebt. Fast alle tragen sehr knappe Arbeitsbekleidung: Dessous, Korsetts, Ledermonturen, Netzstrümpfe, High-heels, Stiefel mit Schäften bis über die Knie. Viel nackte Haut wird zur Schau gestellt, herausgepresste Brüste, freie Pobacken, lange Beine. Manche erscheinen vulgär und nuttig, viele könnten aber aus jeder Reihenhaussiedlung kommen, aus den Vororten der Großstadt oder aus irgend einem Provinznest. Andere wiederum sind exotisch, sehen südländisch aus, auch viele dunkelhäutige Frauen, Asiatinnen sind dagegen seltener. Hier findet sich alles an Weiblichkeit, was man sich als triebhafter Mann so wünscht. Hier ist Verführung pur versammelt, käufliche Erotik, aber keine Liebe, wie einem mit all den Symbolen, den roten Herzen, den roten Schmollmündern oder dem inflationären Schriftzug „amour, love, Liebe“ suggeriert werden soll. An manchen Fenstern sind die Vorhänge zugezogen, ein Zeichen, dass die Damen beschäftigt oder abwesend sind, aber es gibt immer, zu jeder Tages- und Nachtzeit genügend Fenster, die offen sind.
Die Frauen sitzen meistens nur untätig herum und warten auf Kundschaft. Sie klopfen an die Scheiben, wenn ein Mann vorbeischlendert und hungrig, geil oder neugierig zu ihnen hinschaut. Sie öffnen dann schon mal das Fenster, rufen schmeichelnde Worte, schäkern, wenn der Freier zurücklacht, schimpfen, wenn er sie ignoriert. Manche unterhalten sich, oft sehr lautstark, von einem Fenster zum anderen. Es sind nicht nur Komplimente, die sie austauschen, auch hier herrscht Konkurrenzkampf, auch hier geht es um das Überleben. Manche sehen fern, andere haben die kleinen Kopfhörer ihres MP3-Players im Ohr. Es gibt sogar welche, die lesen oder stricken, während sie warten, stundenlang warten, tagelang warten, immer warten. Es ist ein Warteberuf, in dem sie gelandet sind.

Wenn er bei seinem Herumstreunen durch das Viertel die Straßen mit den bunten Lichtern aufsuchte, an den Fenstern entlang streifte, die Frauen taxierte, Desinteresse heuchelte, Gespräche und Annäherungsversuche abblockte, geschah dies vor allem, um die ungewohnte, exotische, leicht verruchte Atmosphäre aufzunehmen. Ihn reizte der Widerschein der farbigen Lichter auf den Pflastersteinen, die Schatten der Männer, die von Fenster zu Fenster gingen, die Blicke der gelangweilt wartenden oder aggressiv fordernden Frauen, die Überraschungen, die sich boten, wenn man in die Fenster schaute. Sicher, er war ein Voyeur, aber vor allem war er ein Jäger und Sammler, ein Fotograf aus Leidenschaft, einer der für ein gutes Motiv, für ein reizvolles Bild, für eine außerordentliche Szene, fast alles gegeben hätte. Aber nur einmal war er vor einem Fenster stehen geblieben, hinter dem eine besonders apart aussehende, schwarze Frau saß, und hatte seine Kamera aus der Tasche gezogen. Noch bevor er abdrücken konnte, hatte sie fuchsteufelswild das Fenster aufgerissen und ihn angeschrien, er solle abhauen, er solle sich verpissen, wenn er was wolle, solle er hereinkommen und bezahlen. Dies war sein einziger Versuch gewesen, die Atmosphäre des Rotlichtmilieus mit offenem Visier fotografisch festzuhalten. Er war vorsichtig geworden und machte seine Bilder in den kritischen Umgebungen nur noch heimlich.

Er war aber nicht nur Fotograf, sondern auch Mann. Und es war nicht so, dass er unberührt, wie ein Heiliger die Versuchung einfach ignorierte. Ihn überkam durchaus die Lust und die geballte Ansammlung weiblicher Hormone ließ ihn keineswegs unbeeindruckt oder kalt. Nein, wenn er durch die Neonstraßen ging, stellte er sich vor, mit einer schlanken Latina, mit einer drallen Blondine oder doch lieber mit einer rassigen Afrikanerin im Hinterzimmer zu verschwinden. Aber wenn es darauf ankam, Kontakt aufzunehmen, an eines der Fenster zu treten, die Bedingungen auszuhandeln und nach dem Preis zu fragen, wurde sein Mund trocken und die Hände feucht. Seine üblichen Zwangsvorstellungen überkamen ihn und verhinderten, dass er sich auf ein Abenteuer einließ. Er fürchtete, dass genau in dem Moment, in dem er in einem der Zimmer wäre, eine Razzia stattfinden könnte. Oder dass er sich trotz aller Vorsichtsmaßnahmen Aids oder eine andere schlimme Krankheit einfangen würde. Oder, ganz bescheuert, dass ihn die Braut mit k.o.-Tropfen lahmlegen würde, nein trinken würde er in solch einer Umgebung nichts, aber sie könnte auch ein teuflisches k.o.-Gas einsetzten und ihn dann beklauen. Das erschien selbst ihm etwas weit hergeholt, aber klassischer Beischlafdiebstahl, das war doch im Bereich des Möglichen. Erst ein wenig Lust, ein wenig Erregung, vielleicht sogar Herumgefeilsche und Frust, weil es nicht so war, wie versprochen und danach wäre auch noch alles weg, das Geld, die Kreditkarte, alle wichtigen Dokumente. Nicht genug, dass Verluste zu beklagen wären, die Erklärungen und Rechtfertigungen bei der Polizei wären höchst unangenehm und der Gipfel des Horrors würde ihn zu Hause erwarten, bei seiner Frau, wenn er ihr diese Verlust erklären müsste. Es grauste ihm, wenn er an all die Gefahren dachte, die ein solcher Besuch mit sich bringen könnte. Hinzu kam, dass er ein ziemlich geiziger Mensch war und mit Sicherheit den ganzen Abend, den folgenden Tag, ja noch Wochen und Monate dem Geld nachgetrauert hätte, das er für ein paar Minuten Glückseligkeit, so er die denn überhaupt bekäme, hätte bezahlen müssen. Sein größtes Problem war jedoch, dass diese Angst sich nicht nur auf die risikoreiche Situation beschränken würde, sondern sich in seiner Psyche festsetzen würde. Er hatte große Angst, dass er im entscheidenden Moment versagen könnte, dass er zu früh oder gar nicht kommen würde, dass er einen unbeholfenen Eindruck machen würde, den Eindruck eines weltfremden Provinzlers in der sündigen Stadt. Er fürchtete, dass seine zur Schau gestellte Selbstsicherheit erschüttert und als bloßer Schein aufgedeckt werden würde. Er war den intimen Umgang mit fremden Frauen nicht gewohnt und tat sich schwer, das zu ändern. Einerseits wollte er durchaus mal ein solches Abenteuer, aber er suchte es dennoch nicht ernsthaft, denn er war zu feige, zu ängstlich, zu unsicher, zu verklemmt, ein typischer Versager. All diese Gründe führten dazu, dass er die Neongegend zwar immer wieder aufsuchte, wie unter Zwang, aber nur wie ein Schatten durch die Straßen schlich.

Aber eines Tages ist er doch über diesen, seinen Schatten gesprungen und hatte das getan, was ein Mann tut, wenn er hierherkommt. Er war vor einem Fenster stehen geblieben und war nicht scheinbar unbeteiligt vorbei geschlendert, den gierigen Blick so gut es ging verbergend. Das Fenster lag am Ende einer schmalen Gasse, die nur durch ein paar trübe Laternen erhellt wurde. Es war ein einzelnes, beleuchtetes Fenster, ohne rotes Neonlicht. Nur ein schwacher, gelber Lichtschein drang bis auf das Pflaster. Kaum jemand schien sich in diese Gasse zu verirren. Er war allein, als er an dem Fenster vorbeiging, das erst in der Nähe als Arbeitsstätte des horizontalen Gewerbes zu erkennen war. Die Neugier packte ihn, er wechselte die Straßenseite, kehrte zurück und späte aus schützender Entfernung in das helle Rechteck. In dem gelben Licht einer Stehlampe sah er zunächst nur ein paar lange, schlanke Beine in schwarzen Leggins und roten Pumps. An den schmalen Fesseln glitzerten silberne Kettchen. Der Rest der Frau, die auf einem Hocker saß, befand sich im Schatten und war von seinem Standpunkt aus kaum zu erkennen. Er sah jedoch, dass sie im Unterschied zu ihren Kolleginnen, die ihre Reize meist großzügig und plakativ zur Schau stellten, keine nackte Haut zeigte. Sie sandte auch keine anderen Signale aus, die einen Mann kirre machen und in das Zimmer locken sollten. Sie klopfte weder an die Scheibe, noch rief sie, noch winkte sie. Die Frau saß nur ruhig auf ihrem Hocker und blickte auf die dunkle Straße. Es schien, dass sie gar nicht wahrnahm, was dort geschah oder dass es sie nicht interessierte. Jedenfalls stand er eine ganze Weile auf dem Trottoir und starrte sie an, ohne dass etwas geschah. Doch genau das faszinierte ihn, diese für das Milieu ungewöhnliche, demonstrative Zurückhaltung. Und so ganz langsam reifte in ihm der Gedanke, endlich doch einmal einen Besuch zu wagen, endlich doch einmal seinen geheimen Wünschen nachzugeben. Doch dann kam wieder die als Pragmatismus getarnte Angst auf. Sollte er nicht lieber weiter gehen, zurück in das Hotel, um sich dort mithilfe des Pornokanals eine Ersatzbefriedigung zu schaffen? Oder eines der Blue-Movie-Kinos in der Nähe des Bahnhofs aufsuchen oder sich in einem der zahlreichen Sexläden Zeitschriften und Videos anschauen oder vielleicht, warum auch nicht, durch ein Loch glotzen und eine nackte, lebende Frau beobachten, die sich auf einer Drehscheibe räkelte, bis die Klappe wieder fiel? Die Frau, die ihn zweifelsohne bemerkt haben musste, half ihm in keiner Weise, eine Entscheidung zu fällen. Sie tat nichts und genau dies Verhalten reizte ihn immer mehr und schließlich überquerte er die Gasse und trat vor ihr Fenster. Erst jetzt beugte sie sich ein wenig vor und öffnete das Fenster einen Spaltbreit, hielt jedoch ihren Oberkörper und das Gesicht nach wie vor im Schatten. Sie schien fast unwillig über die Störung zu sein, sagte nicht, „wie wäre es mit uns, Süßer“ oder etwas Ähnliches, fand auch keine aufmunternden oder gar auffordernden Worte, wie „na komm rein“, sondern sagte stattdessen, sie würde eigentlich nur Stammkundschaft empfangen und ihn hätte sie noch nie gesehen. Aber, so fuhr sie mit einer tiefen, angenehmen Stimme fort, heute sei nichts los und sie erwarte auch niemanden mehr und er könne hereinkommen, wenn er wolle. Dann wurde sie doch noch geschäftsmäßig und fügte hinzu, dass er sein Kommen nicht bereuen würde, alles sei bestens, sie würde sich Zeit nehmen und es mit ihm schön langsam machen, sie würde alles machen, was er wolle und alles würde sicher zu seiner vollsten Zufriedenheit ablaufen. Sie gab ihm sozusagen eine Geld-Zurück-Garantie bei Nichtgefallen, wenn es so etwas in diesem Metier geben würde. Nur als sie den Preis für ihr Komplettangebot nannte, alles andere als ein Schnäppchen, zögerte er. Aber dann gab er sich doch einen Ruck und nickte.

Die Frau erhob sich, schloss das Fenster, zog die Vorhänge vor, um anzuzeigen, dass das Etablissement besetzt war, und öffnete dann die Tür. Sie begrüßte ihn freundlich und führte ihn in ihren Arbeitsraum, hinter dem Schauraum, ein Zimmer, das nun doch rot beleuchtet war, wenn auch nur sehr schwach, sehr schummerig und naturgemäß mit einem großen Bett als beherrschendem Element versehen war. Die Hure war sehr schlank, aber trotz der langen Beine deutlich kleiner als er. Wie sie da stand, eine selbstbewusste Autorität ausstrahlend, hätte man sie nie und nimmer für eine Nutte gehalten, schon gar nicht wegen ihrer Kleidung. Sie trug eine dunkle Bluse mit langen Ärmeln, ohne den Hauch eines Ausschnitts, ja ohne dass eine nennenswerte Basis hierfür vorhanden gewesen wäre, ihr Busen war jedenfalls nicht besonders auffallend oder gar provozierend. Noch nicht einmal wegen ihres sehr kurzen Minirocks und der schwarzen Leggins wäre sie als halbseiden aufgefallen. Sie sah durchaus seriös aus, wie eine Geschäftsfrau, die in einem unkonventionellen, vielleicht in einem künstlerischen Bereich tätig war. Die in einer kreativen Designerfirma oder als Empfangsdame in einem kleinen Themenhotel oder als Verkäuferin in einer Modeboutique arbeitete. Sie unterstrich diesen Anschein der Seriosität noch dadurch, dass sie seltsamerweise schwarze Netzhandschuhe trug, die ihm erst jetzt auffielen. Als er sie im Schummerlicht des Boudoirs genauer taxierte, um zu erfahren, auf was er sich da eingelassen hatte, fiel ihm weiter auf, dass ihr leidlich hübsches Gesicht dick, wenn auch recht kunstvoll, geschminkt war und dass es dadurch einen starren, maskenhaften Ausdruck angenommen hatte. Er meinte auch zu erkennen, dass ihre langen, schwarzen Haare nicht ihre eigenen waren, irgendwie waren sie zu perfekt, es musste eine Perücke sein. Und er nahm einen Duft war, der zwar angenehm, aber doch schon leicht penetrant wirkte, das einzig Aufdringliche an dieser Frau.
Als er so da stand und sie anstarrte, war er sich nicht sicher, ob er eher enttäuscht oder doch lieber angenehm berührt sein sollte. Enttäuscht, dass sie ihn so gar nicht anmachte, dass sie alles andere als eine „femme fatale“ war, keine geborene Verführerin. Erleichtert, dass sie all das gerade nicht war, dass sie wie eine Frau wirkte, mit der man ins Theater ging oder die man vom Elternbeirat kannte. Er war erleichtert, weil ihr „normales“ Aussehen und Verhalten seine Urängste über käufliche Liebe und die Gefahren, die von Prostituierten ausgingen, nicht bediente. Aber als sie seinem neugierig, skeptischen Blick so gar nicht auswich und ihn ihrerseits mit ähnlicher Neugier betrachtete, wurde er doch wieder etwas unsicher. Aber nun hatte er sich schon durchgerungen und bevor er es sich doch noch anders überlegte, kramte er rasch die verlangte Summe aus seinem Geldbeutel, gab sie ihr und sie verstaute das Geld in ihrem Schrank. Dann sagte sie zu ihm, der keine Anstalten machte, sich auszuziehen, noch nicht einmal seine Jacke ablegte „Na, was ist? Willst du oder willst du nicht?“ Sie selbst zögerte jedoch ebenfalls, sich zu entkleiden. Schließlich setzte er sich auf das Bett und legte seine Kleidung ab, Stück für Stück. Dabei zitterten seine Hände ein wenig, der Atem ging ein bisschen schneller als normal und der Mund war auf einmal ganz trocken. Als er fast nackt auf der Bettkante saß, nur die Unterhose hatte er noch an, begann sie auch, sich zu entkleiden. Der angedeutete Striptease, den sie dabei hinlegte, war wohl Teil ihres Programms. Sie wiegte sich in den Hüften, dreht und wendete ihren Oberkörper, streckte ihn vor und zurück und streifte dabei langsam ihre Bluse ab. Der rote BH war klein und was darin steckte, vermutlich auch, in dem rötlichen Dämmerlicht musste er mehr ahnen, als dass er es sah. Dann wackelte sie verstärkt mit dem Po, ließ den Minirock hinab gleiten, setzte sich auf die Bettkante und zupfte Zentimeter für Zentimeter die schwarzen Leggins von den Beinen. Sie schien alle Zeit der Welt zu haben, ungewöhnlich in diesem Job, aber sie erwartete ja niemanden mehr.

Als sie endlich fast nackt neben ihm saß, nur noch in BH und Slip, merkte er, was andere sicher viel früher bemerkt hätte, was andere vielleicht davon abgehalten hätten, zu ihr zu kommen. Er war sichtlich schockiert. Neben ihm saß eine Frau in deutlich fortgeschrittenem Alter, ja eine geradezu alte Frau. Die Haut war, bis auf das geschminkte Gesicht, faltig und fleckig. Sie war nicht nur schlank, sie war mager, die Knochen zeichneten sich deutlich ab, die Rippen, die Schulterblätter stachen hervor. Es war eine überreife Frau, die durch Kleidung, Bemalung und Verhalten ihr wahres Alter geschickt kaschiert hatte. Nun verstand er auch ihre Zurückhaltung, neuen Kunden gegenüber und ihren Wunsch, nur noch Stammkundschaft zu bedienen. Sie merkte, wie er reagierte, wie er sie enttäuscht anstarrte, unschlüssig, was er machen sollte, bleiben oder doch lieber gehen. Es war sicher nicht das erste Mal, dass sie diese demütigende Situation erlebte. Sie blieb aber freundlich, bemerkte nur, dass sie zwar nicht mehr taufrisch, aber durchaus noch brauchbar sei und dass es eben nun mal so sei. Nach dem anfänglichen Schock fügte er sich in die Situation, weil auch er einsah, dass sie nun mal so war, wie sie war, sowohl die Frau als auch die Situation und beschloss mit einem lang gedehnten „aaaaalors, bien“ zu bleiben. Der kritische Augenblick der Wahrheit war überstanden, die Frau seufzte erleichtert auf, wendete sich ihm zu, streichelte ihn sanft und begann ihn mit der Erfahrung einer reifen Frau, die ihr Handwerk versteht, zu verwöhnen. Es war für ihn am Ende sogar ein Erlebnis, wenn auch kein berauschendes und auch kein erotischer Höhepunkt, aber um einen solchen zu beurteilen, fehlten ihm ohnehin die Vergleichsmöglichkeiten. Jedenfalls war er, nachdem sie den Akt auf befriedigende Weise hinter sich gebracht hatten, wieder versöhnlich gestimmt. Und als sie sich beim Weggehen für seinen Besuch höflich bedankte, ihn mit „au revoir monsieur“ verabschiedete und ihn aufforderte, doch einmal wieder zu kommen, murmelte er „peut-être, on vais voir“ oder so etwas Ähnliches und steckte ihr nach kurzem Zögern sogar ein kleines Trinkgeld in den kleinen, roten BH, genau zwischen die beiden kleinen Brüstchen, die er gar nicht nackt zu sehen bekommen hatte. Aber aufgesucht hat er sie dann doch nie wieder.

Testosteron

Die Erfahrung, die er bei der Frau gemacht hatte, war hilfreich, nicht nur wegen der sexuellen Befriedigung. Der Besuch hatte mehr bewirkt. Er hatte sein Ego gestärkt und ihm die Verklemmung und die latente Angst vor den käuflichen Frauen ein wenig genommen. Er konnte nun wesentlich lockerer durch die Neonstraßen tigern und den Damen manchmal sogar zuwinken. Aber diese neue Lockerheit hielt nicht lange an, denn eines Abends, ein paar Wochen, nachdem er Mut bewiesen und auf einem rosa Wölkchen geschwebt hatte, warf ihn ein höchst unangenehmes Erlebnis auf den Boden der Realität zurück. Ein Erlebnis, das ihm die Augen für einen neuen, einen anderen Aspekt dieses Viertels öffnete und auf das er liebend gern verzichtet hätte. Er durchstreifte wieder das Labyrinth der Straßen und der Tunnel. Es war mitten im Sommer, ein warmer, lauer Abend, dem man sogar in dieser Umgebung eine angenehme Seite abgerungen hätte, wenn nicht die üblichen Störfaktoren da gewesen wären: der Verkehrslärm, der Gestank der Abgase, das dunkle, marode Umfeld. Er schlenderte, voyeuristisch wie üblich, an den bunten Fenstern vorbei, mied aber die Gasse, in der die Frau mit den schwarzen Leggins ihr Fenster hatte. Die meiste Zeit des Abends verbrachte er in einem Wettsalon. Er beobachtete die Typen, die gebannt auf die Bildschirme starrten, Pferderennen verfolgten und ihre Tippscheine nach jedem Rennen wütend auf den Boden warfen oder sich ihren Gewinn in Höhe von ein paar Euro freudig auszahlen ließen. Obwohl das sportliche Geschehen nur virtuell stattfand, das eigentliche Rennen war in Indien, in Bangalore, war die Atmosphäre gespannt. In den Gesichtern spiegelten sich die Emotionen, in den Gesten kamen Frust und Freude zum Ausdruck. Die Beobachtungen, die er vom Rande des Saals aus machte, waren durchaus ergiebig und auch die Bilder, die er mit halb versteckter Kamera schoss, versprachen interessant zu sein.

Er war auf dem Weg in sein Hotel. Es war bereits nach Mitternacht und in diesem Teil des Labyrinths war kaum noch jemand auf der Straße, als er auf einmal eine Szene vor sich sah, die ihn faszinierte. Er hatte gerade eine lange, schwach beleuchtete Unterführung verlassen und sah nun einen kleinen Platz vor sich, besser gesagt eine Insel mitten im Gewirr der Straßen und der Hochstraßen. Auf dieser Insel stand ein Kiosk, ein billiger Schnellimbiss mit Halal-Food, vor dem eine Gruppe junger Leute saß. Die Jugendlichen wurden von dem fahlen, grünlich-weißen Neonlicht der Imbissbude und dem gelben Licht der Straßenlampen schwach angestrahlt. Auf ihren Gesichtern lag ein geisterhafter Schimmer zwischen gelblich, grün und weiß. Die Gruppe hob sich sehr deutlich, sehr selektiv von der Dunkelheit ab, die sie umgab. Hinter ihnen ragten die Pfeiler der Hochstraßen in den nächtlichen Himmel, der auch um dieser Zeit noch leicht erhellt war. Diese Bild, die Szene fesselte ihn. Ein Bild, das irgendwie typisch für diese Problemgegend war. Er holte die Kamera aus seinem Rucksack, stellte Entfernung und Belichtung nach Gefühl ein und richtete das Objektiv auf die friedlich da sitzenden jungen Männer. Eigentlich hatte er sich in ausreichender Entfernung aufgehalten, fast noch im Schatten der Unterführung, um die Aufmerksamkeit der Betroffenen nicht zu erregen und die Stimmung nicht zu zerstören. Zudem war seine Kamera sehr leise und auch nicht groß, sie war fast ganz in seinen Händen verborgen. Wahrscheinlich wäre das Bild auch nur halbwegs geglückte, wahrscheinlich war es unscharf, verwackelt, zu kurz belichtet. Solche technischen Unzulänglichkeiten waren aber gar nicht so wichtig. Wichtig war, diese besondere nächtliche Stimmung einzufangen. Einerseits das Verlorensein einer Menschengruppe in einer unwirtlichen Umgebung, andererseits die friedliche Atmosphäre, die von den Betroffenen ausging. Ein kleines Glück im Dschungel der Großstadt. Zumindest empfand er das so, als er die Gruppe sah und die Aufnahme vorbereitete. Doch er sollte das Bild nie sehen, denn die Friedlichkeit war mit einem Schlag dahin. Sein Pech war, dass diese Menschen, junge Araber oder Maghrebiner, von zu viel Testosteron gesteuert werden, dass sie überall Verrat und Unheil wittern, dass sie sich einer ständigen Beleidigung ausgesetzt fühlen und beim geringsten Anlass aggressiv reagieren. Sein besonderes Pech war, dass einer aus der Gruppe wohl eher zufällig in seine Richtung geschaut und beobachtet hatte, welch schändliche Tat sich da anbahnte. Jedenfalls schrie der junge Mann laut auf, als er sah, dass ein Fotoapparat auf ihn gerichtet wurde. Er brüllte unverständliche Worte in einer kehligen Sprache, sprang auf und rannte los, in Richtung des Übeltäters. Seine Kumpane, vier oder fünf an der Zahl, folgten ihm und die ganze Bande stürzte sich schreiend und wild gestikulierend auf den Fotografen, der nicht wusste, wie ihm geschah, allerdings recht gut wusste, warum das geschah. Was sie schrien, verstand er zwar nicht, aber was sie wollten, war ihm sofort klar. Sie wollten seine Kamera oder seinen Film oder beides. Er fühlte sich sehr unwohl in seiner Haut, aber es war zu spät, um davon zu laufen, er war umringt, ein Entwischen war unmöglich. Andererseits wollte er auch nicht klein beigeben, seinen Film nicht herausrücken und so begann er zu erklären, was er eigentlich für ein Bild machen wollte und dass man die einzelnen Personen gar nicht richtig erkennen könne, aber das alles interessierte die Jugendlichen in keiner Weise. Seine Versuche, sich zu rechtfertigen, scherte sie einen Dreck. Er selbst war in dieser prekären Situation erstaunlicherweise immer noch einigermaßen gelassen. Er empfand die Situation zwar als höchst unerfreulich, aber Angst hatte er dennoch nicht. Schließlich befand er sich in einer zivilisierten, europäischen Großstadt und Scherereien wegen eines Fotos, das am falschen Ort, zur falschen Zeit und von den falschen Objekten gemacht worden war, hatte er schon öfters bekommen. Aber diesmal war es anders.
Nachdem er den jungen Männern noch einmal deutlich gesagt hatte, dass er nicht daran denke, ihnen den Film zu geben und dass sie ihn in Ruhe lassen sollten, wurden sie erst richtig unfreundlich. Sie riefen: „le film“, „la camera“, „donne-nous la camera.“ Sie sprachen plötzlich ganz gut Französisch. Aber er blieb hart und rief nun seinerseits lauthals „non, non, non“ und sie schrien weiter, „le film, la camera“. Dann beschimpften sie ihn, er sei ein Wichser und Voyeur und keiften, dass er kein Recht habe, sie zu fotografieren. Und der, der ihn beobachtet hatte und als Erster losgerannt war, warf ihm sogar vor, er habe seine Schwester beleidigt, weil er sie auch habe aufnehmen wollen. Er hatte nicht bemerkt, dass eine Frau bei der Gruppe war und vermutlich war das auch nicht der Fall, in der ihn umringenden Bande war jedenfalls keine. Der Junge hatte wohl nur einen Rechtfertigungsgrund für das gesucht, was nun geschah. Als der Beschimpfte sich einfach umdrehte und fortgehen wollte, ohne dass die Sache geklärt war, riss ihm der mit der angeblichen Schwester den Fotoapparat aus der Hand. Ein anderer packte ihn am Arm und drehte ihn auf den Rücken, während ein dritter ihn heftig in die Kniekehle trat, sodass er fast das Gleichgewicht verloren hätte. Er wehrte sich und schlug mit seinem freien Arm um sich, aber am Ende des kurzen Gerangels hatte er eine schmerzhafte Verrenkung der rechten Schulter und keine Kamera mehr. Die Leica befand sich in den Händen des aggressiven Typs, der wild an dem Apparat herumfummelte und ihn zu öffnen versuchte, um den Film herauszunehmen. Er versuchte es aber vergeblich, denn eine Leica zu öffnen ist nicht so einfach. Seine Kumpel drängten und verspotteten ihn, er sei wohl zu dumm, zu unbegabt, zu aufgeregt. Wütend schmiss er schließlich die Kamera auf die Straße und trampelte darauf herum, bis sie aufsprang und er den Film herauszerren konnte. Fassungslos sah ihr Besitzer, was da geschah, wie das teure Stück auf das Pflaster knallte und wie die Scherben des lichtstarken Objektivs sich verteilten und dann im Licht der Straßenlampe glitzerten wie kleine Edelsteine. Tränen stiegen ihm in die Augen. Diese Scheißkerle, denen werde ich es zeigen, schwor er sich. Aber wie? Als hätten sie seine Gedanken geahnt, kam einer, der sich bisher zurückgehalten hatte, dicht an ihn heran und sagte drohend, wenn er zur Polizei gehe, wäre das sein Todesurteil. Er gebrauchte tatsächlich dieses Wort, „condamnation à mort“. Dann verschwanden die Burschen im Kiosk. Er hob die demolierte Kamera auf und ging in die Nacht.

Tango

Der Verlust der Kamera war ein übles Erlebnis und bei den darauf folgenden Reisen in die Stadt, mied er das Bahnhofsmilieu. Er hatte Angst und Wut und wagte sich auf keine neuen Streifzüge. Zur Polizei war er nicht gegangen. Was hätte er schon erreicht, ohne Zeugen, ohne Beweise? Er hätte sich nur Scherereien eingehandelt. Aber irgend wann hatte er sich wieder beruhigt und sein Trieb, sich in den dunklen Ecken des Milieus herumzutreiben und Fotos zu machen, siegte über die Furcht. Als er wieder einmal in der Stadt zu tun hatte, war es bereits Herbst und es begann früh dunkel zu werden. Er war, wie so oft, schon am Vorabend angereist, hatte wie üblich im Grand Hotel eingecheckt, in einem annehmbaren, nicht zu teuren Restaurant gegessen und sich dann in Richtung Bahnhof aufgemacht, um erneut durch das Labyrinth zu streichen. Nach etwa zwei Stunden war er mit seiner Ausbeute ganz zufrieden. Diesmal waren die abgerissenen Plakate und die Graffitikünste auf kaum erhellten Mauern das Objekt seiner Begierde. Bilder, Zeichen, Symbole, Fragmente im schwachen gelben Licht der Straßenlampen, flüchtig angestrahlt von den hellen Scheinwerfern der vorbeifahrenden Autos, teilweise verdeckt von den Silhouetten der vorbei eilenden Menschen. Motive, die ihm keinen Ärger einbrachten, bei deren Aufnahme er niemanden beleidigte oder provozierte. Und wieder war er schon auf dem Weg zurück in das Hotel, als er an einem Lokal vorbei kam, das ihm bisher noch nie aufgefallen war. Auf einem trüb beleuchteten Schild über der Eingangstür stand „La Tangueria“. Ein Tangoclub, wie er feststellte, als er den Aushang in dem Kasten neben der Tür studierte. Neben der Getränkekarte hing ein Foto mit einem Paar das Tango tanzte, ein gutes Schwarz-Weiß-Bild, wie er anerkennend feststellte, ein Bild, das die Erotik dieses Tanzes sichtbar machte. Plötzlich bekam er Lust, die Tänzer live zu beobachten, noch ein paar Tangos zu hören, eine Musik, die er sehr mochte, sich ein bisschen aufzuwärmen, es war nicht gerade kalt, aber herbstlich kühl und auch noch ein oder zwei Bier zu trinken, weil er urplötzlich merkte, dass er Durst hatte. Er trat ein und war enttäuscht. Statt der erwarteten exotischen Atmosphäre, statt eines vollen Hauses mit lebhaftem Lärm und sich wiegenden Paaren, stand er in einem lieblosen, kahlen, fast ausgestorbenen Lokal. Kalte Neonröhren beleuchteten eine leere Tanzfläche. An den Wänden links und rechts waren Tische und Stühle aufgereiht, an denen ein paar vereinzelte Gestalten saßen. Am Stirnende, gegenüber der Eingangstür, befand sich eine Bar, daneben ein kleines Podium. An der Bar stand ein Mann, putzte Gläser und langweilte sich ganz offensichtlich. Auf dem Podium war die Band, deren Musik den Raum erfüllte. Aber was heißt schon Band, es war ein Paar. Er, ein großer, dunkelhaariger Mann in einem Anzug, der an einen Zirkusdirektor erinnerte, saß hinter einer Kombination aus Hammondorgel und Schlagzeug. Sie, eine reife, schlanke, dunkelhäutige Frau mit wallender Haarmähne und in einem bodenlangen, roten Kleid hielt ein Funkmikrofon in der Hand und sang. Sie hielt sich jedoch nicht nur auf der kleinen Bühne auf, sondern ging im Raum umher und versuchte die Leute zum Tanzen zu animieren, aber es war ja kaum jemand da, den sie hätte animieren können.

Er setzte sich in die Nähe des Podiums, bestellte ein Bier und lauschte der Musik. Die Frau war anscheinend erfreut, dass noch ein Gast gekommen war. Einer der sich für ihre Kunst interessierte, der aufmerksam zuhörte, sich nicht ablenken ließ und dessen Augen sie auf Schritt und Tritt verfolgten. Nach dem zweiten Lied trat sie an seinen Tisch und raunte ihm zu, dass sie das nächste Chanson für ihn, nur für ihn singen würde. „Besame mucho“, die einschmeichelnde Musik erklang ganz leise. „Besame mucho como si fuera esta noche la ultima vez.” Sie umkreiste ihn, suggerierte ihm mit rauer Stimme, dass ihre Küsse ihn nur noch in dieser Nacht betören würden. Dann setzte sie sich auf seinen Schoß und hauchte ihm ins Ohr: „Besame, besame mucho, que tengo miedo a perderte, perderte despues.“ Auf eindringliche Weise übermittelte sie ihm die Angst, ihn nach dieser ersten und letzten gemeinsamen Nacht zu verlieren. Er war gerührt. Sie erhob sich lächelnd und sagte, dass sie nun ein Lied singen werde, das nicht zu ihrem Programm gehöre, ein Lied, das sie und ihr Partner, sie sagte, mein Partner und nicht mein Mann, selbst komponiert und getextet hätten und das sie nur zu besonderen Gelegenheiten und nur für besondere Personen vortragen würde. Er verstand den Text nicht und auch die Musik war nicht ganz sein Fall, aber er spendete lebhaft Applaus und fragte, ob er die beiden als Dankeschön zu einem Getränk einladen und auch noch ein Foto von ihnen machen dürfe. Er durfte beides und er machte mehr als nur ein Foto. Die Bilder waren, wie sich später zeigte, ganz gut geworden. Die banale, an eine Bahnhofshalle erinnernde Atmosphäre war überhaupt nicht mehr zu ahnen und die Blicke, mit denen die Frau in die Linse und damit auf ihn geschaut hatte, waren Blicke, wie man sie sich als Mann wünschte. Blicke der Sehnsucht und des Verlangens. Blicke, die eine verliebte Frau ihrem Liebhaber zu Beginn oder am Ende einer Nacht voller Seligkeit zuwirft. Nach ihrem speziellen Lied hatte sie ihn gefragt, ob sie Bilder von ihm bekommen könne und ihm ihre Adresse aufgeschrieben. Er hatte ihr versprochen, Abzüge zu schicken, aber er hielt, wie so oft, sein Versprechen nicht ein. Doch das konnte sie nicht wissen und so sang sie noch ein paar richtig schöne, melodiöse Lieder, nur für ihn, allein für ihn: „Veinte Anos – Dos Gardenias – Descripcion de un sueno, einige Tangos, Paso dobles, kurzum: mejor musica latina. Dabei umgarnte sie ihn, strich um ihn herum, verwirrte ihn, fasste ihn an der Hand, zog ihn von seinem Stuhl hoch und begann mit ihm zu tanzen und beim Tanzen zu singen. Sie drückte sich an ihn, flüsterte den Text der Lieder in sein Ohr. Das Mikrofon hatte sie schon längst beiseitegelegt, für diese intime Privatvorstellung brauchte sie es nicht. Die Stimmung, in die sie ihn versetzte, war voller erotischer Spannung, exotisch und erotisch, trotz der Kahlheit des Raums, trotz des ungemütlichen Ambientes. Der Mann, vielleicht ihr Mann oder doch nur ihr Partner, saß die ganze Zeit ungerührt hinter seinem Schlagzeug. Er schien solche Einlagen zu kennen oder ihr Verhältnis, sofern es eines gab, hatte sich im Laufe der Jahre abgekühlt. Die anderen Gäste hatten den Club schon längst verlassen und der Barkeeper gähnte. Es war deutlich nach Mitternacht und irgendwann hörte auch die Sängerin auf, leise bedrängt von ihrem indifferenten Partner. Dann war Schluss mit der Vorstellung. Er verabschiedete sich von der cantante sehr herzlich. Sie gaben sich Küsschen auf die Wangen und er drückte ihr einen Geldschein in die Hand, was sie veranlasste, seine Hand lange, sehr lange festzuhalten. Er war schon im Gehen, als ihm einfiel, dass er keine Ahnung hatte, woher die beiden eigentlich kamen. Er dreht sich noch einmal zu ihr um und fragte, ob sie aus Argentinien kämen, der Tangos wegen. Nein, aus Kuba, war die Antwort und er meinte, dass er darauf selbst hätte kommen können, bei all den kubanischen Titeln, die sie gesungen hatte. Sie lebten aber schon lange in Europa, erklärte sie noch und sie seien ständig unterwegs, in Clubs, in Bars, auf Festivals. Ein Nomadenleben. Vielleicht würden sie sich ja irgendwo noch einmal begegnen, und wenn er wolle, könne er ihre Telefonnummer haben. Sie tauschten ihre Nummern aus, aber er rief sie auch nie an und sie rief ihn nie an und der Charme der Begegnung verblasste und die Erinnerung tauchte nur noch dann auf, wenn er romantische kubanische Lieder hörte.
Geschenk für eine Krankenschwester

Nach dem herzlichen Abschied ging er tatsächlich zurück in sein Hotel, in das altmodische Grand Hotel mit seinem nostalgischen Ambiente, mit der pompösen Eingangshalle, den Fresken an den Wänden und einem Fahrstuhl mit schmiedeeisernem Gitter. Aber er war noch nicht müde. Die exotische Sängerin mit ihrer warmen, einschmeichelnden, erotischen Stimme, mit ihrer sinnlichen, körperlichen Nähe und ihrer lasziven Ausstrahlung hatte ihn so angetörnt, dass er beschloss, noch einen Abstecher an die Bar zu machen. Er brauchte noch etwas Abkühlung, etwas Distanz, einen Absacker, um ruhig einschlafen zu können. Auch hier, in der Bar, war nur wenig los, ein Pärchen beim Tête-à-tête, ein ebenfalls gelangweilter Barkeeper und dann war da noch eine Frau, eine einsame Frau, die auf einem der Barhocker saß und ein fast leeres Cocktailglas vor sich stehen hatte. Sie sah aus wie eine Geschäftsfrau, fand er, als er sich ebenfalls an die Bar setzte und sie verstohlen musterte. Eine Geschäftsfrau, die nach einem arbeitsreichen Tag mit vielen anstrengenden Besprechungen und wichtigen Entscheidungen ebenfalls noch nicht abschalten konnte und vor dem Einschlafen noch einen Drink brauchte, genau so wie er. Eine seriöse, nicht mehr ganz junge Frau, in geschmackvoller Kleidung, bei der nichts darauf hindeutete, dass sie etwas anderes im Sinn haben könnte, als das, was sie gerade tat, nämlich sich noch einen späten Drink zu genehmigen. Höchstens die Tatsache, dass sie allein und um diese Zeit in der Hotelbar saß und sich dabei ganz offensichtlich langweilte, hätte einem zu denken geben können. Denn kaum hatte er sich gesetzt und ein Bier bestellte, er trank fast immer Bier, verwickelte sie ihn in ein Gespräch, froh, dass endlich noch jemand zur Unterhaltung gekommen war. Sie redeten über belanglose Dinge, über das Wetter, die Stadt, das Leben als solches, schäkerten ein wenig und er machte ihr ein Kompliment, dass sie auch noch zu so später Stunde hervorragend aussehe. Das fiel ihm nicht schwer, denn sie sah in der Tat ganz gut aus. Sie freute sich und bedankte sich artig mit einem unschuldigen Augenaufschlag. Das gefiel wiederum ihm und er spendierte ihr einen Cocktail, einen Caipirinha, wenn auch erst nach einigem Zögern, denn er war ja einer, der das Geld zusammen hielt und unnötige Ausgaben scheute, Ausgaben, die sich nicht rentierten und heute hatte er schon eine getätigt, eine für die Sängerin, die sich jedoch zweifellos gelohnt hatte. Dennoch schwankte er, ob es angebracht sei, auch einer Geschäftsfrau einen Drink zu bezahlen, einer, die sicher selbst genügend Geld hatte. Aber er war gut gelaunt, hatte wohl seine Spendierhosen an und zudem das Gefühl, es würde sich vielleicht doch noch lohnen.

Das Gespräch plätscherte wieder eine Weile dahin und er erfuhr zu seinem Erstaunen, dass die seriöse Dame keineswegs eine Geschäftsfrau, sondern Krankenschwester von Beruf war und auch nicht im Hotel wohnte, sondern eine kleine Wohnung in der Stadt hatte. Er fragte sich um so mehr, was sie denn wohl hier mache, scheute sich aber, die Frage direkt an sie stellen, erhielt jedoch sehr bald eine Erklärung, allerdings nicht im Verlauf der nichtssagenden Unterhaltung. Diese trachtete er nach einiger Zeit zu beenden, denn der Alkohol und die wohlige Wärme der Bar hatten ihn schläfrig gemacht und er sehnte sich nach seinem Bett, nach dem breiten, weichen Doppelbett des Grand Hotels mit seinen schneeweißen, lavendelduftenden Laken und den nostalgischen Daunenkopfkissen. Er rief dem Barmann, der nach wie vor lustlos vor sich hinstarrte, zu, er solle das Bier und den Cocktail und auch noch ein Trinkgeld auf seine Zimmerrechnung setzen, Zimmer 125. Der Barmann nickte, tippte etwas in seine Kasse und gab ihm den Beleg zur Unterschrift. Die Frau hatte interessiert zugeschaut und zugehört, und als er ihr sagte, es sei Zeit für ihn, antwortete sie, ja es sei wohl Zeit für kleine Jungs,aber es sei schade, dass er schon gehen wolle. Und dann, ja dann fügte sie unvermittelt hinzu, was er davon halte, wenn sie ihn auf sein Zimmer begleite oder nachkomme, Zimmer 125, das war doch die Nummer, oder? Er war perplex. Was er von einem schönen gemeinsamen Ausklang des Tages halte, fuhr sie fort. Mit dieser Wendung der Dinge hatte er nicht gerechnet. Nein, damit nicht. Er stammelte verlegen herum, von wegen müde und morgen anstrengender Tag, sagte aber weder ja noch nein. Sie lächelte ihn nun sehr verführerisch an und wiederholte, dass sie sich doch noch einen schönen restlichen Abend zu zweit machen könnten, auf seinem Zimmer, ganz intim und dass er ihr nur ein kleines Geschenk geben solle: un petit cadeaux, C’est tout. Er wusste beim besten Willen nicht, wie er reagieren sollte, stand auf, druckste noch verlegener herum als zuvor, sagte schließlich „bonne nuit“, verließ irritiert die Bar und die Frau und ging, leicht schwankend, in Richtung des schmiedeeisernen, nostalgischen Aufzugs. Die Frau war anscheinend über sein Verhalten gar nicht verwundert und rief ihm nach, dass sie also kommen würde.

In seinem Zimmer überlegte er sich, was er tun sollte, wenn sie ihre Androhung tatsächlich wahr machen würde. Die alte Angst vor Frauen war wieder da, die Angst mit einer Frau intim zu werden, verunsicherte ihn. Sein Mund war trocken und er schwitzte. Im Bad putzte er sich die Zähne, wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser ab und lauschte dabei angestrengt, um ein Klopfen an der Zimmertür nicht zu überhören. Sollte er sich jetzt ausziehen und ins Bett legen? Oder warten oder war das alles nur eine Illusion, ein Missverständnis? Hatte die Frau gar nicht gesagt, dass sie kommen wolle? War er schon so besoffen? Gerade als er beschloss, sich nun doch auszuziehen und hinzulegen, klopfte es leise an die Tür.

Unsicher öffnete er sie einen Spalt, als ob er nicht genau wüsste, wer draußen stand. Sie drückte die Tür sanft auf, schlüpfte ins Zimmer und schloss die Tür rasch hinter sich. Manchmal gäbe es Probleme, meinte sie zur Erklärung, wenn man die Hotelangestellten nicht genügend geschmiert habe und heute habe sie das noch nicht getan. Jetzt war sie plötzlich keine Geschäftsfrau mehr, keine Dame, sondern eine professionelle Nutte, die ihr Ziel fast erreicht hatte. Als Erstes legte sie ihre Jacke ab, dann stellte sie klar, was in ihren Augen ein kleines Geschenk sei. Er war erneut überrascht. Mit so viel hatte er nicht gerechnet. Sie sah ihn amüsiert an. Ob das zu viel für ihn sei? In einem teuren Hotel wohnen und teuer essen gehen, spottete sie, das könne er. Er habe sicher einiges liegen lassen müssen, im Chéz Maxim, pas vrai? Oder gehe er doch nur zu McDonald? Diese Stadt sei nun mal teuer, das wisse man doch und da dürfe er sich nicht so anstellen, wenn es um ein kleines Geschenk gehe. Dafür bekomme er ja schließlich auch einiges geboten. Sie sei gut und er würde es bestimmt nicht bereuen. Wenn er einen ganzen Abend mit ihr verbringen würde, mit Ausgehen und Essen und zum Abschluss noch einen längeren Besuch auf dem Zimmer, dann erst könnte es für ihn richtig teuer werden, dann erst hätte er Grund zum Jammern. Aber das, was sie jetzt von ihm wolle, sei dagegen nur ein Klacks. Er schluckte trocken und dachte angestrengt nach. Die Dame wieder hinaus zu komplimentieren, das ging ja wohl nicht, dazu war die Sache schon zu weit gediehen. Und, wenn er ehrlich war, er wollte es auch nicht, er wollte diese Gelegenheit, die sich ihm so überraschend geboten hatte, nutzen, obwohl er sich das andererseits nicht so recht eingestehen wollte. Schließlich nickte er aber doch und sie sagte „très bien“ und fügte hinzu, leider müsse sie auf Vorauskasse bestehen. Sie habe da ihre Erfahrungen, leider. Das sei nicht gegen ihn gerichtet, aber sie kenne ihn ja gar nicht. Beim nächsten Mal, sie sei überzeugt, dass sie sich noch öfters treffen würden, also beim nächsten Mal, habe sie mehr Vertrauen zu ihm und dann sei das leidige Finanzielle überhaupt kein Thema mehr. Während sie so dahin redete und ihm ihre Bedingungen nannte, ihm erklärte, was sie ihm für den Lohn bieten würde, sah sie sich kurz und routiniert im Zimmer um. Solche Zimmer waren wohl ihre Arbeitsstätte und boten ihr nichts Neues.

Dann streckte sie fordernd ihre Hand aus, während er immer noch halb gelähmt, halb verängstigt zwischen Zimmertür und Bett stand und diese Frau, diesen halb willkommenen, halb unwillkommenen Eindringling, nahezu dämlich anglotzte. „Alors, qu’est-ce que c’est?“ fragte sie gurrend. Er tappte zum Schreibtischstuhl, über dessen Lehne sein Jackett hing, holte die Brieftasche aus der Innentasche und fingerte die gewünschten Scheine aus dem Geldfach. Dabei verfluchte er seine Dummheit und auf was er sich da eingelassen habe. Die Frau nahm schnell das Geld, steckte es in ihre Handtasche, lächelte ihn an und kam dann gleich zur Sache. „Eh bien, allons commencer“, meinte sie geschäftsmäßig und begann sich routiniert auszuziehen. Erst ihre Kostümjacke, dann die hochhackigen Schuhe, danach knöpfte sie ihre Bluse auf, legt sie ab und hielt inne. „Et toi ? Viens! Mach schon.“ Darauf hin begann er nun auch, sein Hemd aufzuknöpfen und an seiner Hose herumzufummeln. Sie fuhr mit ihrem Nicht-Striptease fort und streifte den engen grauen Rock über die recht breiten Hüften und macht sich daran, die Strumpfhosen abzurollen. Bei ihrem Tun beobachtete sie kritisch, wie er sich ungeschickt und fahrig auszog. Sie merkte ihm deutlich an, dass er Schiss hatte, und sagte etwas spöttisch, aber dennoch beruhigend: „Mein armer Kleiner, nur keine Aufregung, Mama wird schon alles richten.“ Schließlich stand sie vor ihm, nackt wie Gott sie erschaffen hatte, eine durchaus ansehnliche Frau mit ein paar kleinen Problemzonen um die Hüften, den Bauch und den Po herum. Auch sie eine Frau aus der Nachbarschaft, eine Kollegin, nichts Verruchtes, nichts was ihn an Rotlicht und Neonleuchten erinnerte. Eine Frau, genauso seriös wie die, mit den schwarzen Leggins. Sie wartete, bis auch er sich vollends aus seinen Kleidern geschält hatte, dann nahm sie ihn an der Hand, genauso wie die Sängerin im „La Tangueria“, nur dass sie ihn nicht zum Tanzen animieren wollte, sondern ihn zum Bett dirigierte, auf dem sie dann auch gleich lagen. Dort setzt sie ihren Job professionell fort, aber es dauerte doch eine ganze Weile und erforderte von beiden einiges an Anstrengungen, bis er bereit war, sich diesem warmen Körper hinzugeben und in ihn eindringen konnte. Aber letztlich ging doch alles glatt. Fast zu glatt, wie er am Ende des Aktes bedauernd fand, zu glatt und zu schnell für das viele Geld, aber so ist das nun mal in diesem Geschäft und es ist immer besser, wenn es glatt geht, als wenn es gar nicht geht. Nachdem also der Gipfel des Tigerbergs erreicht und rasch überschritten war, hatte die Liebe auch schon ein Ende. Sie stand auf, ging ins Bad, kam wieder zurück, zog sich an, gab ihm, der immer noch erschöpft da lag, einen flüchtigen Kuss auf die Wange, genauso wie die Sängerin, und verschwand mit einem: „au revoir chérie et merci et peut-être une autre foie“. Er wusste nicht ob er sich über das viele Geld und die letztlich zu kurze Phase des Vergnügens ärgern oder mit dem Erreichten doch lieber zufrieden sein sollte. Ärgern wollte er sich aber jetzt nicht mehr, denn er war richtig wohlig müde und das Geld war nun mal weg und so beschloss er, dass es ein schöner Tag gewesen war, wickelte sich in das Lacken, löschte das Licht, drehte sich zur Wand und schlief ein.

Klicke auf das Herz, wenn
Dir die Geschichte gefällt
Zugriffe gesamt: 5729

Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen.

Gedichte auf den Leib geschrieben