Der Balkon

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Der Balkon

Der Balkon

Yupag Chinasky

Er las, hörte Musik, holte seinen alten tragbaren Minifernseher aus der Abstellkammer und sah verrauschte Bilder. Doch nicht immer konnte oder wollte er sich beschäftigen. Die Müdigkeit war ja da und manchmal fielen ihm für kurze Zeit sogar die Augen zu, doch an erholsamen Schlaf war nicht zu denken. In diesen Phasen der Erschöpfung saß er still in seinem Lehnstuhl, trank lauwarmen Sprudel, fächelte sich Luft zu und beobachtete die Umgebung. Von seiner Wohnung aus blickte er auf drei weitere Blocks. Sie bildeten zusammen ein Karrees mit einer großen Rasenfläche in der Mitte. In diesem Lifekino gab es immer etwas zu sehen und zu hören, besonders in diesen heißen Nächten. Viele Fenster waren weit geöffnet und gewährten Einblick in das Innenleben ihrer Bewohner, manchmal sogar in ihr intimstes. Menschen aßen und tranken, tigerten in der Wohnung umher, lagen schlaff auf dem Sofa, duschten, sahen fern, liebten sich, küssten sich und manche gerieten in lautstarken Streit, der bis in Handgreiflichkeiten eskalieren konnte. Musik plärrte bis spät in die Nacht und er konnte diverse Fernsehprogramme simultan verfolgen. Ein Teil des Lebens hatte sich auf die Rasenfläche verlagert. Größere Kinder spielten Fußball, kleinere fangen, andere balgten sich, kleine Jungs wälzten sich im Gras, kleine Mädchen stießen schrille Schreie aus. Großfamilien grillten, der kokelige Gestank der Holzkohlen und des Grillguts verpestete die Gegend. Liebespärchen lagen im Gras und knutschten. Besoffene übergaben sich oder pinkelten in dunkle Ecken.

Trotz dieses Freiluftkinos plagte ihn in diesen nächtlichen Stunden, die an sich dem Schlaf gehörten, die Langeweile. Die Hitze und die Langeweile machten die Nächte zur Qual und es gab kein Entrinnen und keine Aussicht auf Besserung. Der nächste Tag würde wieder unsäglich heiß sein, mit gleißendem Sonnenlicht und klebrigem Straßenasphalt. Ein Tag ohne Frische, ohne kühle Schatten, dem eine neue Höllennacht folgen würde.

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