Der Balkon

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Der Balkon

Der Balkon

Yupag Chinasky

Doch dann geschah etwas, das die nächtliche Einförmigkeit unterbrach und sein Interesse weckte. Es war die Frau im roten Kleid, die er auf einem Balkon des Nachbarblocks entdeckte. Ihre Wohnung befand sich auf gleicher Höhe wie seine, in guter Sicht-, aber außerhalb der Hörweite. Sie fiel ihm auf, weil ihr rotes Kleid in den Strahlen der untergehenden Sonne leuchtete. Als es dunkel wurde, stellte er verwundert fest, dass sie eine brennende Kerze auf die Balkonbrüstung stellte und dieses Ritual jeden Abend wiederholte. Die Kerze brannte, so lange sich die Frau im Freien aufhielt. Dieses Verhalten hatte ihn neugierig gemacht und um sie besser beobachten und mehr Details in Erfahrung bringen zu können, holte er sein Fernglas. Und er registrierte schon in den ersten Abenden eine Fülle von Details: wann sie sich auf dem Balkon einrichtete, wie oft sie ihre Wohnung aufsuchte, dass sie oft mit einem Glas in der Hand an die Brüstung des Balkons trat, in kleinen Schlucken trank, sich eine Zigarette anzündete, rauchte, sich dann hinsetzte, las, sich mit einer Zeitschrift Luft zufächelte, dann wieder rauchte, sich ein neues Glas holte, erneut trank. Es war eine Erleichterung für ihn, festzustellen, dass da noch ein Mensch war, der die Enge seiner Wohnung nicht ertragen konnte, sie aber auch nicht verlassen wollte. Noch einer, der sich gezwungenermaßen bis spät in der Nacht auf dieser winzigen Freifläche aufhielt. Aus der Erleichterung entwickelte sich Mitgefühl gegenüber der Unbekannten, dann Sympathie, schließlich Zuneigung. Und je länger er sie beobachtete desto vertrauter wurde sie ihm, desto besser gefiel sie ihm. Und er musste sich eingestehen, dass sie ihm sogar ausnehmend gut gefiel.

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