Bettina würde bereits vor der Heirat zu Ferdinand auf den Hof ziehen.
In dem Moment, in dem Ferdinand den Holzriegel zur Stalltür vorschob, geschah es. Er vernahm ein bedrohliches Schnauben aus der hinteren Stallhälfte. Dann sah er den Schatten. Blindwütig raste der Stier auf Ferdinand zu; er hatte sich losreißen können. Bevor der Bauer ausweichen konnte, rammte das wild gewordene Tier die Stalltür, sprang darüber hinweg und schlug mit einem seiner Hinterhufe gegen Ferdinands Kopf und spaltete ihm den Schädel. Dann raste das Tier zornig, mit Schaum vor dem Maul, durch den Beton-Vorstall, soff ein paar große Schlucke aus dem Brunnen und trottete zurück in seine Behausung, als wäre nichts gewesen. Das Mitleid der Dorfbewohnerinnen und -bewohner war unbeschreiblich gewesen. Alle mochten Bettina und hätten ihr eine glückliche Ehe auf dem Ferdinandhof gegönnt. Aber es hatte nicht sein sollen. Somit lebte die junge Frau nun in tiefer Trauer, und Viktor, dem Pfarrer, war bewusst, dass sie irgendwann bei ihm Trost suchen würde.
Nun saß Bettina also da, in einem dunklen Umhang und einem schwarzen Schleier und hielt den Kopf gesenkt. Der Pfarrer hatte viel Erfahrung und wusste, wie man sich einem trauernden Schäfchen am besten näherte. Wortlos setzte er sich neben die junge Frau und hatte nur Augen für deren Lockenpracht. Er würde ihr in dieser Nacht das geben, was sie brauchte, um den Verlustschmerz fürs Erste zu verarbeiten. Aber er musste sehr behutsam vorgehen. Bettina wandte sich ihm zu, mit verheulten Augen. Gegen die laufende Nase reichte er ihr ein Seidentuch, das er von seiner Mutter geerbt hatte. „Wollen wir reden?“, fragte er in die Stille hinein. Seine Stimme hallte selbst dann von den Steinsäulen wider, wenn er nur flüsterte.
Bettina und der Aaronsstab
8 6-11 Minuten 0 Kommentare
Bettina und der Aaronsstab
Zugriffe gesamt: 559
Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen.