Blaustrumpf kauft Blaukraut

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Blaustrumpf kauft Blaukraut

Blaustrumpf kauft Blaukraut

Sophie Andresky

Jeden Tag kurz vor zwölf verlässt Rapunzel ihren Turm und steigt zum Marktplatz hinab. Der Turm hat sieben Geschosse und gehört einer Wohnungsbaugesellschaft, und Rapunzel weiß als arme Studentin die niedrigen Mieten zu schätzen. Außerdem liegt die Uni gleich in der Nähe, und, was viel wichtiger ist: Direkt unter dem Studententurm gibt es einen kleinen Platz, auf dem Stände alles anbieten, was Rapunzel so braucht. Das ist nicht viel, denn meistens kauft sie nur einige Möhren, Rote-Beete-Knollen oder einen Rotkohlkopf und trägt das schnell wieder die Treppe hoch. Rapunzel ist nicht einfach Vegetarierin. Rapunzel fürchtet sich vor Dingen, die sie nicht im Ganzen sieht. Könnte sie ein ganzes Schwein kaufen, würde sie es vielleicht essen, aber ein Stück Filet oder Hasenkeule, das ist ihr unheimlich. Sie stellt sich immer die abenteuerlichsten Tiere vor, von denen das blutige Stück stammen könnte, und weil Rapunzel schon seit sie ein Kind ist, an Märchen glaubt, sieht sie sich selbst zu dem Tier werden, das sie gerade gegessen hat. Sie sieht ihre polangen Schneewittchenlocken über eine behaarte Lende und vier Beine mit Rehhufen fallen, sie sieht sich als Nixe, wenn sie vor dem Fischstand steht, mit entblößten Brüsten einem Matrosen zuwinken, fackelnd vor Leidenschaft und zur ewigen Kälte verdammt, weil ihr knabenhafter Körper ab der Taille in einen Fischschwanz mündet, der ihr keine Befriedigung verschaffen wird. Da isst sie doch lieber Radieschen und Löwenzahn, denn wenn sie sich in so etwas verwandeln sollte, kann es so schlimm nicht werden. Rapunzel ist nicht nur sehr gesundheitsbewußt, sie ist auch fleißig. Sie könnte Lieschen heißen, denn sie lernt den ganzen Tag. Sogar zum Einkaufen nimmt sie immer ein Buch mit und steckt ihre weiße spitze Nase hinein, während sie darauf wartet, dass der Gemüsehändler, der wie ein Rettich aussieht, ihre Ware abgewogen hat. Sie murmelt Verben und grammatische Formen vor sich hin, als wollte sie das Hexen lernen. Der Rettich, der sie murmelnd und flüsternd vor sich stehen sieht, während sie mit ihren schwanenweißen Händen auf etwas zeigt, das besonders knackig aussieht, kommt nie dahinter, welche Sprache es eigentlich ist, die sie da lernt, aber das interessiert ihn auch nicht wirklich. Und noch jemand interessiert sich nicht für ihr Lernpensum: Der Fleischbursch, dessen Stand gleich nebenan steht. Sobald Rapunzel auf den Gemüsestand zuschwebt, strafft er die Schultern, fährt sich durch die dichten Haare, die ihn wie einen Löwen umgeben, und wirft sich in die Prinz-Positur. Während sie einkauft und in ihrem abgegriffenen Buch liest, macht er sich Gedanken darüber, ob sie bei diesem überschlanken Körper mit den Radieschenbrüsten überhaupt einen BH trägt, ob sich ihre Muschel wohl, wenn er sie mit vorsichtigen Daumen öffnen wurde, teilt wie ein überreifer Pfirsich, ein sanfter Schmatzer, und dann läge das schimmernde, samtige Fruchtfleisch vor ihm, und er könnte die tropfende Süße herauslecken und sich zu ihrem Geheimnis vorarbeiten. Aber so weit wird es nie kommen, denn Rapunzel hat den Fleischbursch noch nie beachtet. Sie sieht ihn einfach nicht. Sie steht da, wie eine erschienene Elfe, murmelt ihre Formeln und entschwebt wieder. Den Fleischer macht das wahnsinnig, und er beginnt, sie zu piesacken, um sie auf sich aufmerksam zu machen. „He Blaustrumpf“, ruft er, als sie das nächste Mal erscheint, „nimm mal die Nase aus dem Buch, hier gibt es frisches Fleisch für dich“, und dabei zieht er sein Hosenbein bis zum Knie hoch und lässt sie seine starken Drachentöter-Waden sehen. Rapunzel blickt nur kurz auf, ein roter Schleier fliegt über ihr blasses Gesicht, und schon ist sie wieder auf dem Weg zu ihrem Turm, zu dem der Fleischbursch keinen Zugang hat. Wenn nur eine Dornenhecke davor stünde, die würde er zerschneiden, aber man braucht den Nummerncode der Hausverwaltung, und den hat der Fleischer nicht. Er stellt sich vor, dass es am Rettich liegt, dass sie lieber den Löwenzahnmann will, dass der dann seine schrumplige Ökomöhre in ihre saftige Pfirsichmuschel schiebt und an ihren Radieschen knabbert, während sie seine Pflaumen mit sanft nagenden Zähnen massiert. Ihm wird ganz schlecht vor Eifersucht. Am nächsten Morgen zeigt er ihr seine breiten Schultern, er ruft „Blaustrumpf kauft Blaukraut, Blaustrumpf kaut Blaukraut“, und irgendwann ist er so verzweifelt, dass er sich mit dem Rücken zu ihr stellt, sich bückt und ihr seinen blanken Hintern entgegenhält. Das bringt ihm zwar diverse Beschwerden der anderen Kundinnen ein, die jetzt lieber ihr Fleisch da kaufen, wo man nur totes zu sehen bekommt, aber Rapunzel lässt sich nicht beeindrucken. Fast erscheint es dem Fleischbursch, als wäre sie eine Schlafwandlerin, die noch hundert Jahre lang zum Markt und hoch auf ihren Turm schweben wird, ohne aufzuwachen.
Dann wacht sie doch auf. Der Fleischer will ihr seine Muskeln zeigen, um ihr zu beweisen, dass er wenigstens das halbe Königreich verdient hat, und hebt eine Stange mit halben Schweinehälften ganz alleine vom Laster, aber er hat sich überschätzt, denn er strauchelt und fällt vornüber auf ein gespanntes Drahtseil, das sein Hemd und seine Brust aufreißt. Da sitzt er mit blutender Brust, und Rapunzel kann nicht anders als hinstarren, wo das Blut über die gebräunte haarlose Haut des Prinzen Schaschlik läuft, so saftig sieht er aus, so ganz anders als der eingetrocknete Rettich, der Hände hat wie Wurzeln und Rillen auf der Stirn, in denen man aussähen könnte. Der Fleischbursch ist prall und fleischig, warm und muskulös. Sie geht zu ihm und reicht ihm ihre Hand. Eigentlich will sie ihm nur aufhelfen, aber der Fleischer, der immer schon ein verkappter Romantiker war, sieht das symbolisch und glaubt, jetzt werde sie ihn mit auf ihren Turm nehmen und gesund pflegen. Und vielleicht liegt es am Drachenblut, das über seine Brust läuft: Rapunzel tut es tatsächlich. Während sie ihn stützt, gesteht er ihr in vielen Fleischmetaphern seine Liebe, sagt, dass sie das Fettauge seiner T-Bone-Steaks sei, dass es kein Rinderwahnsinn, sondern brennende Leidenschaft sei, die ihn irre mache, und manche Dinge mehr, von denen er glaubt, dass man Jungfrauen damit erobern kann. Rapunzel findet ihn überaus komisch, rührend auch, aber vor allem komisch, unten am Turm fängt sie an zu lachen, und oben kann sie kaum noch Luft holen, weil sie so japsen muss. Ihre Wohnung steht voller Bücher, aber ein Bett gibt es auch, ein Prinzessinnenbett mit weißem Baldachin. Der Fleischer nestelt in seiner Hosentasche herum und zieht ein Päckchen hervor, das er ihr überreicht. Kein Drachenkopf zwar, keine faustgroße Perle, aber etwas, das auch originell ist; blaue Nylonstrümpfe. Und als er Rapunzel durch die Flut an Haaren fährt, weiß sie, dass sie ihn jetzt einlassen muss. Sie gibt ihm ein großes Pflaster und Mullbinden, die er dramatisch um sich schlingt, als wäre er direkt in einen Fleischerhaken gefallen, und sie streift die blauen Strümpfe über, die am Oberschenkel mit einer breiten Spitze enden. Und da Rapunzel keine Freundin von vielen Worten ist, zieht sie ihre übrige Kleidung gleich aus. Fassungslos sitzt der Fleischbursch vor ihr auf dem Bett und starrt sie an, ihr Kressebeet vor allem. Rapunzel ist schön wie etwas gerade Gesprosstes, und obwohl sie so überschmal ist, besteht ihr Körper nur aus Kurven und Wölbungen. Nichts Knochiges ist an ihr, nichts Vertrocknetes. Saftig ist sie, feucht wie eine aufgeplatzte Frucht, und als er sie zu sich herzieht, an ihren blaubestrumpften Beinen entlang fährt und sich mit der Zungenspitze näher zu dem gekräuselten Rasenstück zwischen ihren Schenkeln tastet, über das schlüpfrige Moos leckt und ihre verborgenste Knospe sucht, da schmeckt sie wirklich so süß, wie er es sich immer ausgemalt hat. Sie drängt ihn aufs Bett und steigt über ihn, ihre Haarflut wird ein Vorhang, der ihm die Sicht nimmt, und Rapunzel legt den Kopf in den Nacken und stellt sich vor, was passiert, wenn ihr Aberglaube doch Recht hat und sie zu dem werden wird, was sie sich einverleibt. Sie stellt sich vor, dass sie halb Rapunzel bleiben und halb Fleischbursch werden wird, eine große, sehnige, massige Frau, kein Gewächs, sondern ein Weib, eine Walküre, und der Gedanke gefällt ihr so, dass sie die Schenkel enger um ihn schließt und sich mit den Fingernägeln fest in seinen breiten Rücken verkrallt.

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