Der Blick aus der Wohnung war fantastisch. Unter einem wolkenlosen, samtblauen Himmel funkelten unzählige Lichter so weit das Auge reichte. Die selten klare Sicht ließ die unfassbare Weite des Häusermeers nicht nur erahnen, sondern brachte auch alle Einzelheiten plastisch zur Geltung: die zusammengedrängten Hochhäuser im Zentrum, die kleinen Wohnhäuser in den Vororten, die wenigen dunklen Flächen der um diese Zeit ausgestorbenen Parks, die zahllosen Autoscheinwerfer, die den Verlauf der breiten Straßen markierten, die Schneisen der Eisenbahnlinien mit den dahinschleichenden rötlichen Fensterbändern der Züge und sogar den entfernten Hafen mit angestrahlten Kränen, Containern, Brücken und Schiffen. Doch die Krönung des Ausblicks lag weit entfernt am südwestlichen Horizont, ein kleines, weißes Dreieck, das sich deutlich von der dunkleren Umgebung abhob. So zeigte sich von hier aus der mit Schnee bedeckte Kegel des heiligen Berges, der Sitz der Götter, der in den letzten Strahlen der Sonne, die über der Stadt bereits untergegangen war, aufleuchtete. Es war ein seltener Anblick, schon fast ein festliches Ereignis, das den Berg in erschaubare Nähe rückte, weil ihn für gewöhnlich Dunst und Wolken verbargen. Der helle, ebenmäßige Kegel in der Ferne fand sein Gegenstück ganz in der Nähe, innerhalb der Wohnung, direkt vor dem Fenster: eine hohe, bauchige Vase auf einem kleinen Podest aus Ebenholz. Das tiefschwarze Holz und die nachtdunklen, glitzernden Fenster bildeten den perfekten Kontrast zu dem kostbaren, elfenbeinfarbenen Weiß des feinen Porzellans, aus dem dieses Meisterstück geformt war. Ein Kunstwerk ohne zusätzliche Muster, die nur abgelenkt hätten, ohne weitere Verzierungen, die eine Steigerung der ästhetischen Wirkung nicht vermocht hätten, ein Objekt, dessen vollendete, harmonische Form dem Vorbild in der Ferne durchaus ebenbürtig war.
Shibari
schreibt N8Dreams