Miss Chang wähnte sich auf dem richtigen Weg. Die jungen Frauen hatten sich langsam eingelebt, was angesichts der Umstände einem kleinen Wunder gleichkam. Immerhin handelte es sich bei der Joe Biden-High um kein gewöhnliches Internat. Die Schule entsprach eher einer Besserungsanstalt für junge Straftäterinnen, oder wie Roxy es auf direktere Weise ausdrückte, einem “verfickten Jugendknast“. Dabei wurden die Schülerinnen sorgfältig ausgewählt. Das Internat nahm nur Frauen auf, bei denen die vage Hoffnung auf Einsicht bestand. Shyan Chang konnte auf eine lange Lehrerinnenlaufbahn zurückblicken. Sie bekam es nicht zum ersten Mal mit schwierigen Jugendlichen zu tun. Trotzdem stellten diese Mädchen eine echte Herausforderung dar. Prägende Jahre ihrer Adoleszenz verbrachten sie auf der Straße. Die Gangs ersetzten desolate Familienverhältnisse. Den jungen Frauen fehlte das Vertrauen zu ihren neuen Bezugspersonen, zu denen auch die Lehrerin gehörte. Miss Chang und den anderen Lehrkräften wurde schnell klar, dass das Sicherheitspersonal nicht in der Lage war, die Schülerinnen Tag und Nacht zu überwachen. Der neuen Regierung fehlte es an Geld, das wie schon in den Jahrzehnten vor dem Zusammenbruch erneut im Bildungsbereich eingespart wurde. Miss Chang bedauerte zwar, dass erneut Aufseherinnen abgezogen wurden. Sie sah aber auch eine Chance darin. Die Schülerinnen bekamen ein bisschen mehr Beinfreiheit. Vielleicht nutzten sie diese auf vernünftige Weise, was ihrem zukünftigen Leben abseits der Kriminalität zuträglich sein konnte. Das Internat wurde von der neuen Regierung gefördert, aber das knappe Budget zwang die Schulleitung zu Sparmaßnahmen. Dabei setzte Miss Chang große Hoffnungen in die Frauen, die für dieses Resozialisierungsprojekt ausgesucht wurden. Während Shyan mit ihrem Kollegen Jack Warner darüber diskutierte, ob man den Mädchen etwas Freiraum gestatten sollte, kam es im Waschraum zu einer Konfrontation.
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