Der Brunnen

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Der Brunnen

Der Brunnen

Yupag Chinasky

Die Frau ging zum Herd, schaute hinein, stellte befriedigt fest, dass immer noch Glut vorhanden war, steckte ein paar Holzscheite hinein und stellte einen Topf mit Wasser auf die rußige Platte. Sie würde immer mit Holz kochen, erläuterte sie, das Gas, sie deutete auf die große Stahlflasche neben dem Herd, sei teuer und schlecht anzuliefern, mit dem Gas müsse sie sparsam umgehen, aber Holz gebe es hier auf dem Berg, sie sagte montana, also Gebirge, genug. Elektrizität gäbe es auch keine, sie müsse sich in ihrem Verhalten nach der Sonne richten. Sie habe zwar einen kleinen Generator, aber selten Benzin, das sei zu teuer und eigentlich auch nicht nötig. Für den Notfall seien eine große Taschenlampe und ein paar Kerzen im Haus. Der Kühlschrank sei sowieso meistens leer und brauche deswegen keinen Strom. Und das Wasser, wie schon gesagt, käme aus dem Brunnen. Wenn sie etwas kühl aufbewahren müsse, Butter oder Eier oder gar Fleisch, das sie nur selten im Haus habe, würde sie es in den Schöpfeimer legen und bis zur Wasseroberfläche hinab lassen, das sei sogar besser als in einem Kühlschrank, weil da kein Stromausfall vorkommen könne. Er solle mitkommen und sich den Brunnen anschauen, er befände sich mitten im Hof. Der Hof war eine braune, staubige Fläche, auf der einen Seite stand die Hütte, auf der anderen ein Garten mit Gemüse, der Rest wurde vom Kaktuszaun begrenzt. Der breite Rand des Brunnens war aus groben Steinen gemauert und einen guten Meter hoch, die Brunnenöffnung war mit breiten Brettern abgedeckt. Über dem Brunnen war ein Gestell mit einer Winde angebracht, auf der Abdeckung stand ein Eimer mit einem Seil, neben dem Brunnen ein altes, verrostetes Ölfass, das ebenfalls abgedeckt war und ein paar bunte Plastikschüsseln. Die Frau entfernte die Hälfte der Abdeckung, nahm den Eimer und ließ ihn langsam den Schacht hinab gleiten. Irgendwann hörte er ein Plätschern und sah, wie das Seil sich entspannte. Er solle hineinschauen, ob er das Wasser sehe, forderte sie ihn auf. Er tat es und sagte, es sei zu dunkel, um etwas zu sehen. Ja, meinte sie, der Brunnen sei mehr als zehn Meter tief und das Wasser, betonte sie noch einmal, sei immer sehr gut und sehr frisch, viel besser als das im Dorf oder gar die trübe, giftige Brühe in der Stadt. Sie drehte die Kurbel der Winde, und als der Eimer oben angekommen war, stellte sie ihn auf den Rand. Dann nahm sie ein Glas, das ebenfalls auf dem Brunnenrand stand, füllte es und reichte es ihm. Er trank das Glas auf einen Zug leer. Das Wasser war in der Tat köstlich und erfrischen. Danach bediente sich auch die Frau.

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