Der neue Gast war einen Moment lang in der geöffneten Tür stehen geblieben, als wollte er seinen Entschluss, zu dieser späten Stunde noch hier zu speisen, überdenken. Doch da kam schon der Oberkellner herbeigeeilt und wies mit großer Geste auf die vielen leeren Tische: freie Auswahl. Nach einem kurzem Rundblick schritt er dann doch mit lautem Stakkato ausgerechnet auf den Tisch zu, der direkt neben dem des Cognactrinkers stand. Die Wahl dieses Platzes bei so vielen freien Tischen überraschte und erfreute diesen, denn er konnte sich nun, versteckt hinter einigem Grünzeug, einem seiner liebsten Vergnügen ungestört hingeben, Menschen perfekt zu observieren, ohne selbst beobachtet zu werden. Und das tat er auch ausgiebig, denn dieser Gast verwirrte ihn und er war zugleich von ihm äußerst angetan. Denn es handelte sich um eine große, stattliche Frau, eine markante, gut proportionierte Person, nicht zu jung und für seinen Geschmack auch nicht zu alt, so um die vierzig, schätzte er. Sie war sehr apart gekleidet, sehr exquisit, sehr teuer. Das konnte er beurteilen, auf dem Gebiet kannte er sich aus. Allein die farbenfrohe Bluse und der elegante Seidenschal, er tippte in beiden Fällen auf Pierre Cardin, die den notwendigen Kontrast zu ihrem schlichten sandgrauen Anzug bildeten, waren aller erste Sahne. Auch die Schuhe aus Krokodilleder, gefährlich spitz mit noch gefährlicheren Absätzen und ebenso wie die Handtasche, ein sündteures Designerdingsda, farblich auf den Anzug abgestimmt, zeugten von erlesenem Geschmack und dem hierfür nötigen Kleingeld. Das Outfit allein hätte seine Aufmerksamkeit jedoch nicht allzu sehr erregt. Gut gekleidete Gäste waren in diesem Lokal die Regel. Aber diese Frau war außergewöhnlich, denn ihre Haut war dunkel, von einem tiefen, aparten, angenehmen dunklen Braun. Ihre Hände waren lang und schlank und die wenigen, erlesenen Ringe an ihren Fingern, hätten manchem Juwelier zur Ehre gereicht. Die pechschwarzen Haare bildeten ein anscheinend wildes, aber in Wahrheit sehr kunstvoll arrangiertes Gestrüpp. Das Außergewöhnlichste war jedoch ihr Gesicht. Es war keineswegs hübsch, aber ausdrucksstark und einprägsam. Ein Gesicht, das sich in jeder Situation veränderte. Beim Betreten des Lokals, als sie noch unschlüssig in der Eingangstür stand und sich umsah, war es grimmig. Nachdem der Oberkellner sie angesprochen hatte, wurde es schlagartig freundlich. Auf dem Weg zu ihrem Platz war es neutral, so wie bei Besprechungen, denen sie bei ihrer Arbeit wohl pausenlos ausgesetzt war. Und als sie saß und die Getränkekarte studierte, sah es ein klein wenig müde und abgespannt, aber durchaus zufrieden aus. Es war ein Gesichtsausdruck, den er bei Menschen beobachtet hatte, die gerade ein anstrengendes, aber wunderbares Erlebnis hinter sich hatten. Kurze Zeit später, als sie ihr Getränk wählte, wortlos, nur durch Antippen mit dem Finger auf die Karte, hatte es wieder die konzentrierte, grimmige Variante angenommen. Ihr entschlossenes Verhalten, ihr straffer Gang, die pralle Figur und das wandlungsfähige Gesicht, das alles war Grund genug für ihn, zu bleiben, abzuwarten, zu hoffen und zu planen. Er lehnte sich zurück und bestellte einen weiteren Kaffee, sowie nach kurzem Nachdenken auch noch einen Remy Martin.
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