Büffet für zwei

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Büffet für zwei

Büffet für zwei

Yupag Chinasky

Es war kurz vor zehn, als die Eingangstür aufschwang und ein später Gast erschien. In dem angesagten Edelrestaurant war es um diese Zeit still geworden. Nur noch wenig Leute verteilten sich auf noch weniger Tische, niemand redete und Musikberieselung war hier ohne hin verpönt. Das Büffet sah ramponiert aus. Abends gab es nur Buffet, all-you-can-eat Büffet auf allerhöchstem Niveau für gut betuchte Feinschmecker und Geschäftsleute mit Firmenkreditkarte. Die leckersten Sushis waren weg, die letzten Krümel der getrüffelten Lammsülze lagen verloren in der frischen Minze, der Kaviar war ausgelöffelt und die Bouillabaisse in der kugelrunden, schwarzen Chauffage de Soupe fast eingetrocknet, dennoch gab es noch genügend Köstlichkeiten zur Auswahl. Vor neun war eine Reservierung unumgänglich, nach neun hatte man freie Platzwahl, musste sich jedoch mit dem begnügen, was noch vorhanden war, denn es wurde nichts mehr nachgeliefert und pünktlich um halb elf, wenn die Geschäftsleute üblicherweise gegangen waren, schloss der Gourmettempel . Einer der letzten Gäste saß vor einem erkalteten Latte Machiato und der Rest Remy Martin in dem überdimensionierten Cognacschwenker zeigte an, dass sich das kulinarische Vergnügen seinem Ende näherte. Es hatte ihm wie immer hervorragend geschmeckt, wenn auch die Vinaigrette zum Spargel heute eine Spur zu aggressiv gewesen war. Auch diesmal hatte er sich reichlich bedient und sich das investierte Geld zum größten Teil wieder einverleibt. Obwohl vollauf gesättigt, hatte er dennoch oder gerade deswegen Appetit auf mehr, wenn auch nicht auf mehr Essen, und er überlegte, wie er den Rest des Abends gestalten sollte, lieber angenehm, ruhig oder doch besser angespannt, aufregend. Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, denn seine satte Ruhe wurde durch den neuen Gast gehörig durcheinandergewirbelt.

Der neue Gast war einen Moment lang in der geöffneten Tür stehen geblieben, als wollte er seinen Entschluss, zu dieser späten Stunde noch hier zu speisen, überdenken. Doch da kam schon der Oberkellner herbeigeeilt und wies mit großer Geste auf die vielen leeren Tische: freie Auswahl. Nach einem kurzem Rundblick schritt er dann doch mit lautem Stakkato ausgerechnet auf den Tisch zu, der direkt neben dem des Cognactrinkers stand. Die Wahl dieses Platzes bei so vielen freien Tischen überraschte und erfreute diesen, denn er konnte sich nun, versteckt hinter einigem Grünzeug, einem seiner liebsten Vergnügen ungestört hingeben, Menschen perfekt zu observieren, ohne selbst beobachtet zu werden. Und das tat er auch ausgiebig, denn dieser Gast verwirrte ihn und er war zugleich von ihm äußerst angetan. Denn es handelte sich um eine große, stattliche Frau, eine markante, gut proportionierte Person, nicht zu jung und für seinen Geschmack auch nicht zu alt, so um die vierzig, schätzte er. Sie war sehr apart gekleidet, sehr exquisit, sehr teuer. Das konnte er beurteilen, auf dem Gebiet kannte er sich aus. Allein die farbenfrohe Bluse und der elegante Seidenschal, er tippte in beiden Fällen auf Pierre Cardin, die den notwendigen Kontrast zu ihrem schlichten sandgrauen Anzug bildeten, waren aller erste Sahne. Auch die Schuhe aus Krokodilleder, gefährlich spitz mit noch gefährlicheren Absätzen und ebenso wie die Handtasche, ein sündteures Designerdingsda, farblich auf den Anzug abgestimmt, zeugten von erlesenem Geschmack und dem hierfür nötigen Kleingeld. Das Outfit allein hätte seine Aufmerksamkeit jedoch nicht allzu sehr erregt. Gut gekleidete Gäste waren in diesem Lokal die Regel. Aber diese Frau war außergewöhnlich, denn ihre Haut war dunkel, von einem tiefen, aparten, angenehmen dunklen Braun. Ihre Hände waren lang und schlank und die wenigen, erlesenen Ringe an ihren Fingern, hätten manchem Juwelier zur Ehre gereicht. Die pechschwarzen Haare bildeten ein anscheinend wildes, aber in Wahrheit sehr kunstvoll arrangiertes Gestrüpp. Das Außergewöhnlichste war jedoch ihr Gesicht. Es war keineswegs hübsch, aber ausdrucksstark und einprägsam. Ein Gesicht, das sich in jeder Situation veränderte. Beim Betreten des Lokals, als sie noch unschlüssig in der Eingangstür stand und sich umsah, war es grimmig. Nachdem der Oberkellner sie angesprochen hatte, wurde es schlagartig freundlich. Auf dem Weg zu ihrem Platz war es neutral, so wie bei Besprechungen, denen sie bei ihrer Arbeit wohl pausenlos ausgesetzt war. Und als sie saß und die Getränkekarte studierte, sah es ein klein wenig müde und abgespannt, aber durchaus zufrieden aus. Es war ein Gesichtsausdruck, den er bei Menschen beobachtet hatte, die gerade ein anstrengendes, aber wunderbares Erlebnis hinter sich hatten. Kurze Zeit später, als sie ihr Getränk wählte, wortlos, nur durch Antippen mit dem Finger auf die Karte, hatte es wieder die konzentrierte, grimmige Variante angenommen. Ihr entschlossenes Verhalten, ihr straffer Gang, die pralle Figur und das wandlungsfähige Gesicht, das alles war Grund genug für ihn, zu bleiben, abzuwarten, zu hoffen und zu planen. Er lehnte sich zurück und bestellte einen weiteren Kaffee, sowie nach kurzem Nachdenken auch noch einen Remy Martin.

Die Frau erhob sich, nachdem der Ober die Bestellung aufgenommen hatte und schritt mit erneutem Getöse dicht an ihm vorbei zum Büffet. Ihr Gang faszinierte ihn, dieses leichte, zielstrebige Gewiege, dieses sanfte erotische Wackeln des Hinterns, dieses sichere Balancieren auf den mörderischen High-Heels. Sie hatte, man sah es deutlich trotz der weiten Knitterhose, ein ausladendes Hinterteil. Auch ihr Busen war angemessen groß, so weit er das bei dem offenen, flatternden Jackett und dem üppig drapierten Schal beurteilen konnte. Sie wiederholte den Gang zum Büffet in der folgenden halben Stunde mehrfach, um sich weitere Häppchen, Salatblättchen, Tellerchen, Schüsselchen und Tässchen zu holen. Bei jedem Gang hörte er trotz des Lärms, den die Sohlen machten, zwei weitere Geräusche. Ein leises Knarren der wohl noch neuen Krokodillederschuhe und ein noch leiseres, sanftes Rauschen. Der Edelknitter ihres Hosenanzugs raschelte wie trockene Bambusblätter im Abendwind. Vielleicht machte sie diese Gänge aus bewegungstherapeutischen Gründen, vielleicht half ihr das Hin- und Hereilen mit den winzigen Portionen im Kampf gegen zu viel Kalorien und potentielle Pfunde. Oder, so dachte er einen Augenblick lang vermessen, oder es zog sie einfach in seine Nähe? War er der Grund? Nein, das bestimmt nicht, denn sie sah ihn die ganze Zeit nicht an, weder von ihrem Platz aus noch auf ihrem Weg zum Büffet. Aber dafür nahm er sie um so intensiver wahr, nicht nur optisch und akustisch. Er spürte bei jedem Vorbeigehen einen sanften Lufthauch und roch einen flüchtigen, leicht betörenden Duft nach Veilchen, der erst verebbte, wenn sie am Büffet angekommen war oder ihren Platz wieder eingenommen hatte.

Seinen Kaffe schlürfend taxierte er sie und ordnete sie in sein bewährtes Wo-gehört-wer-hin-Schema ein. Sie war mit Sicherheit eine Business-Woman, eine Karrierefrau. Erst vermutete er Bank, so zweite, dritte Ebene, doch dann entschied er sich für Einzelhandel. Abteilungsleiterin für Damenkonfektion in einem besseren Bekleidungshaus oder Inhaberin einer angesagten Edelboutique in der Altstadt. Jedenfalls musste sie in einer Position sein, die ihr ein ausreichendes Einkommen sicherte. Ausreichend für ihren exquisiten Geschmack und das formidable Lokal.

Den Cognac süffelnd registrierte er sehr genau, was und wie viel sie sich vom Büffet holte. Es war seiner Meinung nach viel zu wenig für das viele Geld. Und erst recht viel zu wenig für eine derart stattliche Frau. Sie nahm immer nur ein paar Kinderhappen, aber, so musste er anerkennen, eine überlegte Auswahl in perfekter Abfolge. Auf ein Fischpastetchen als Entrée folgte ein Löffelchen Bouillabaisse, dann eine Kombination exotischer Salatträume, garniert mit einem Hauch Carpaccio, schließlich noch einige Tapas und Antipasti. Als Hauptgericht wählte sie ein Häufchen buntes Gemüsegratin mit einem Handteller großen, blutroten Kobe Beefsteak an einer gefährlich grünen, höllisch scharfen Wasabisauce. Er wusste, wie delikat, zart und scharf das Fleischgericht war, denn er hatte es auch gekostet. Über eine Sache wunderte er sich allerdings, über ihre Getränkewahl. Sie hatte weder einen schweren Grand Cru aus Bordeaux noch eine leichte, edle Riesling Spätlese bestellt sondern lediglich ein Fläschchen Rokko No Mizu geordert, ein höchst exklusives, unverschämt teures Mineralwasser aus Japan, er erkannte es am Etikett, obwohl er sich diesen Luxus noch nie geleistet hatte, nur dies Wässerchen passend zu Koberind und Wasabi, sonst nichts.

Mittlerweile waren alle anderen Gäste gegangen. Nur noch sie beide und ein leicht gelangweilter Kellner waren übrig. Büffet für zwei. Er schaute auf die Uhr, bald halb elf. So langsam musste er vorankommen. Sein Plan stand fest. Er würde sich räuspern, auf diese Weise ihre Aufmerksamkeit auf sich lenken und sie dann elegant und charmant in seinem schönsten Englisch ansprechen. Er war von Anfang an überzeugt, dass Englisch die einzige Sprache war, die sie beherrschte, von ein paar Brocken Behelfsdeutsch einmal abgesehen. „May I recommend you the very fine crème du chocolat as a sweet. I had it myself and as I can see there is still some there.” Sie würde überrascht zu ihm hinschauen und ihr grimmiges Gesicht würde in ein Lächeln übergehen und sie würde erwidern: “Oh, thank you very much. I will try it.” Und nachdem sie die braune Versuchung probiert und anerkennend genickt hätte: „You are so very nice and so helpful.” Sie würden noch ein Weilchen banale Sätze austauschen, dann würde er aufstehen, an ihren Tisch treten und sich vorstellen. Sie würde ihn anlächeln, ihm die Hand reichen und sich ihrerseits vorstellen. Laura, der Name würde zu ihr passen. „Why don’t you take a seat here? Please sit down.” „Herr Ober, bitte noch zwei Gläser Champagner“. „Sehr gerne, mein Herr, aber ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass wir in 5 Minuten schließen.“ Der Champagner würde kommen und sie würden einander zuprosten „Cheers.“ „Cheers and thank you once more.“ „Why thank you?” Ein Wort gäbe das andere und angesichts der nicht mal mehr fünf Minuten, die noch verblieben, würde er vorschlagen, das Lokal zu wechseln. Er kenne da einen Club, in dem er nicht nur Stammgast sondern sogar Mitglied sei. Und auf ihre Nachfrage, ob es ein Nachtklub sei: „Yes, indeed, it is a night-club. Do you know the Crazy Cat? Not everybody is allowed to go in. Please, let us take my car. It is a Porsche, you know. Have you ever sat in a 911 Targa?” Und dann, und dann …

Er schreckte aus seinen Träumen auf und ihm fiel siedend heiß ein, dass es höchste Zeit für seine Nachtischmasche war. Sie hatte bereits das meiste des Käsearrangements aufgegessen, das sie vor sich ausgebreitet hatte und mühte sich von dem einzigen verbliebenen Stück, einem weichen Brie, die Rinde zu entfernen. Jeden Moment würde sie zum letzten Gang aufbrechen, zum Dessert. Er stand auf und räusperte sich. Sie hob den Kopf und sah überrascht in das Gesicht, das plötzlich über dem Grünzeug erschienen war. Sie registriert, wie zwei Augen sie unverfroren anstarrten und der grimmige Normalzustand trat wieder ein. Er lächelte schief und wollte gerade loslegen, da klingelte ihr Handy. Sie wandte ihren Blick unverzüglich von ihm ab und ihrer Handtasche zu, kramte darin, holte ein goldfarbenes Minigerät heraus, klappte es auf und hielt es sich an ihr Ohr. Nach dieser Unterbrechung seiner Anmache war ihm nichts anderes übrig geblieben, als sich wieder zu setzten und weiter zu beobachtete, wie sich ihr Gesichtsausdruck in beeindruckender Weise veränderte. Zuerst zeichnete sich beim Kramen in der Handtasche eine gespannte, freudige Erwartung ab, die beim Aufklappen des Handys in sichtliche Erregung über ging, doch nach wenigen Sekunden des Lauschens machte sich ein enttäuschter Unwillen breit, der im Laufe des nachfolgenden Gesprächs in einer deutlich spürbaren Langeweile endete. „Was isch los? Wo isch bin? Beim Türk, mit de Kattie. Welsche Kattie? Die von de Haushaltswareabteilung. Han isch dir doch gsacht, dass isch mit de Kattie erscht ins Kino und dann esse geh. Welscher Film? Kann isch dir ehrlich net sache, de Titel han isch scho wieder vergesse, die heeße doch all gleich. So was mit Herz und Schmerz. Ob mir fertig sin? Mir sin grad zu der Tier nei kumme und han zwee Deener bstellt. Wann mir fertig sin, bring isch die Kattie noch heem und sie kocht uns en Kaffee. Warum rufschst denn iberhaupts ah?“ Sie lauschte eine Weile, konzentriert, ohne etwas zu sagen, dabei wurde ihr Gesichtsausdruck immer angespannter und als sie dann selbst laut und hektisch zu reden begann, spiegelte sich darin das blanke Entsetzen. „Des kann doch net wor sei. Was hascht ihr denn zum fresse gebe, hättscht bloß net die billich Sardinepaschte beim Aldi kaaft? Was haschst bloß mit meim arme Kätzel gmacht, dass es kotze muss, du Wüschtling, du Geizhals. Isch komm glei, isch bstelle de Deener ab und de Kattie muss sich a Taxi nehme. Ala, bis dann.“

Sie verstaute rasch das Handy, stand auf ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, stakte zur Kasse, unterschrieb den Bon der Kreditkarte und eilte auf den Parkplatz. Er folgte ihr zeitverzögert und sah gerade noch, wie ein überdimensionierter Landcruiser einen gewaltigen Kavalierstart hinlegte und sehr dicht an ihm vorbei donnerte. Er meinte auch bemerkt zu haben, dass die Frau am Steuer ihn anschaute und sich mit dem Zeigefinger an die Stirn tippte. Oder hatte sie die Hand zu einem bedauernden Gruß gehoben? Hinter ihm gingen die Lichter des Restaurants aus. Er stand unschlüssig da, die Nacht vor sich.

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