Nichts tat ich lieber, als in Dachböden herum zu stöbern. Alte, geheimnisvolle Kleider mit schweren Broschen. Briefmarken. Spielzeug aus anderer Zeit. Und, ja, Briefe. Speziell die Briefe meiner Großmutter hatten es mir angetan. Mehrheitlich handelte es sich dabei um Liebesbriefe an meinen längst verstorbenen Großpapa. Der Inhalt war oft explizit, was ich aber erst später begriffen habe.
„Oh, Arthur, ich wünschte mir so sehr, Deine Lippen an meinem Buschwindröschen zu spüren. Spiel mit Deiner Zunge, spiel”,
war noch einer der harmloseren Sätze. Die Briefe stammten allesamt aus den Dreißiger Jahren. Mitten in der Wirtschaftskrise hatte es mein Großvater nicht einfach gehabt, die Familie durchzubringen. Ich stelle mir vor, dass es überall nach Kohl roch, so, wie in den Büchern von Heinrich Böll. Kohlgeruch symbolisiert Armut. Ja, meine Familie war arm. Nur durch die Kraft der Sprache hielten sie sich gegenseitig bei Laune – Medien zur Ablenkung standen nicht zur Verfügung – noch nicht einmal ein Radio. Meine Großmutter war noch sehr jung, als sie diese Verführerinnenbriefe schrieb – wohl so an die zwanzig. Geboren wurde sie 1910. Jetzt dämmerte sie im Pflegeheim Rosengarten vor sich hin, mit ihren 99 Jahren. Vom Buschwindröschen zum Rosengarten, jaja. Sie war eine hübsche Frau gewesen, die Agleia. Oft sinnierte ich vor mich hin, was denn wohl die Reizmittel der damaligen Frauen gewesen sein mochten. Rochen sie allesamt nach Kohl? Parfum stand ja wohl kaum zur Verfügung – den späteren Trümmerfrauen, denen wir das heutige, stolze Deutschland zu verdanken haben, sowieso nicht. Unterwäsche? Vermutlich trugen sie tagelang diese Zelte aus schwerem Leinen – heute würde man von Liebestötern sprechen.
Nein, die damaligen Frauen reizten mit Sprache, mit Scheu, mit verhaltenen Körperbewegungen, mit Liebe im Dunklen. Und sie mussten willig gewesen sein, diese Frauen, mein Gott.
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