Chinatown

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Chinatown

Chinatown

Anita Isiris

Meine Sicht ist sehr eingeschränkt; ich sehe nur das Bett, auf dem Sylvie liegt, und das Fenster dahinter. Ich vermute, dass wir uns in einem Raum gegenüber dem Siang Cho Keong Tempel befinden, dessen Drachendach zu sehen ist. Ich kenne mich gut aus in Chinatown, Singapur, war schon mehrere Male zu Fuss hier unterwegs – allerdings unter ganz andern Umständen.

Sylvie und ich haben erst vor ein paar Wochen Zürich verlassen, um uns in einem unwegsamen Waldgebiet, fernab von zuhause, einem Frauenprojekt zu widmen. Wie naiv wir doch waren, des Nachts allein das Hauptquartier aufzusuchen – es war ja absehbar, dass uns ein paar Männer überfallen und uns womöglich verschleppen würden. Sie haben uns mit Messern bedroht, diese Männer, und Messer sind etwas vom Unheimlichsten, das die Menschheitsgeschichte hervorgebracht hat. Wir wurden gefesselt, dann trieben sie uns vor sich her. Mit einem Fusstritt haben sie Sylvie in eine Holzkiste befördert und diese sofort zugenagelt. Ich konnte mich im letzten Moment losreissen und bin seither auf der Flucht. Ich kann nicht ohne Sylvie nach Zürich zurück, kann mich in meinem Spital nicht mehr zeigen ohne sie. Also beschloss ich – da ich eh nichts zu verlieren hatte – Sylvies Entführern zu folgen. Ich band das Haar zurück, tarnte mich als Schiffsjunge und bekam auf diese Weise rasch heraus, was für Ziele sie mit meiner Berufskollegin verfolgten: Verkauft sollte sie werden, in Singapur, Chinatown – ganz einfach ihres rotblonden Haares wegen. Die Männer hier stehen nicht auf dieselben Reizzonen stehen wie die Männer in Europa. Die Busengrösse ist ihnen mehr oder weniger egal, ob sich ein Hintern wölbt oder eher klein und muskulös ist, interessiert sie genau so wenig. Die Männer hier taxieren Frauen ausschliesslich auf Grund ihrer Haarfarbe. Diese Piraten werden zwar durch die Schönheit ihrer eigenen Frauen verwöhnt. Blauschwarzes, hüftlanges Haar tragen die meisten, feingliedrige Hände haben sie, und die Frauen kleiden sich mit erlesenem Geschmack, so sie es sich leisten können. Die Piraten geifern aber nach blonden und insbesondere nach rothaarigen Frauen. Die geben ihnen den ultimativen Kick; von Indonesien bis Japan ist diese Spezies nämlich ausgesprochen selten vertreten. Das ist es wohl, was Sylvie dermassen in Gefahr gebracht hat: Ihr rotblondes Haar, das sie vorzugsweise in einem Pferdeschwanz zusammengebunden trägt. Tagelang habe ich Sylvies Kiste verfolgt. Erst wurde sie in einem stickigen Küchenvorraum gelagert, danach im Schiffsbauch, dann wiederum vor der Kapitänskajüte. Oh nein, bildet Euch ja nicht ein, sie hätten Sylvie die ganze Zeit über in Ruhe gelassen. Sie haben sie befummelt, begrapscht, bezüngelt und befingert, und dies zu jeder Tages- und Nachtzeit. Ich hatte die grösste Mühe, mit anzusehen, wie die stolze, geradlinige, aber sexuell eher unerfahrene Krankenschwester mit jedem Tag etwas mehr zu einer öffentlichen Frau wurde. Wie durch ein Wunder liessen sie aber ihr Geschlecht in Ruhe; kein Piratenpenis drang in Sylvia ein, um die Sache mal so zu nennen. Insbesondere ihr Mund, ihr Haar, ihr Hals, ihre Brüste, ihr Bauch wurden aber zunehmend Allgemeingut, bevor sie sie dann wieder in ihre Kiste sperrten.

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