Die Chinesin

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Die Chinesin

Die Chinesin

Yupag Chinasky

Kurz nach dem Frühstück trafen sie sich in der Halle, perfekt gekleidet und mit all den Dingen ausgestattet, die zum Wandern notwendig sind wie Kamera, Fernglas und Nordic-walking-Stöcken. Alle waren froh und gut gelaunt, bis auf ihn, der sich wegen seines immer noch geschwollenen, schmerzenden Fußes an dem Ausflug nicht beteiligen konnte und zwangsläufig einen weiteren, einsamen Tag im Hotel überstehen musste. Diese Aussicht und der Verzicht auf den Besuch der Höhlen, auf den er sich natürlich gefreut hatte, ärgerte ihn, aber er hatte keine andere Wahl und so nahm er reichlich scheel die aufrichtig gemeinten Beileidsbezeugungen der Mitreisenden entgegen.

Nun, da er allein und das Wetter schön war, stellte er einen Stuhl auf den kleinen Balkon seines Zimmers, nahm sich ein Buch, das er von einem Mitreisenden ausgeliehen hatte und begann zu lesen. Doch schon nach einigen Seiten stellte er fest, dass ihn die Geschichte überhaupt nicht interessiert, ja er ärgerte sich, dass man solch einen Mist überhaupt als Reiselektüre einpacken konnte. Statt zu lesen, genoss er die langersehnte Sonne, verlor sich im Anblick der vorbeiziehenden Wolken am klaren, tiefblauen Himmel, verfolgte ihre Schatten, die durch das Tal eilten und stellte sich vor, auf einem der blendend weißen Schneeberge zu sitzen und Lama Anagarika Govindas Buch „Der Weg der weißen Wolken“ zu lesen.

Irgendwann im Laufe des Vormittags, als er aufstand und über die Betonbrüstung des Balkons auf den Hof schaute, fiel ihm die Frau auf, die auf der niedrigen Umgrenzungsmauer zur Straße saß. Es war eine etwas rundliche und, wie ihm schien, nicht mehr ganz junge Frau, die einfach nur da saß und nichts tat. Sie hatte offensichtlich viel Zeit und an diesem Tag nichts Besseres vor, denn als er nach dem Mittagessen wieder auf den Balkon kam, saß sie immer noch in ihrem Sonntagsstaat da, rote Bluse, gelber Rock, weiße Handschuhe und ein Strohhut mit einer künstlichen, grellroten Rose.

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