Die Chinesin

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Die Chinesin

Die Chinesin

Yupag Chinasky

Die Tür zum Balkon ist geöffnet. Dort steht noch der Stuhl mit dem langweiligen Buch. Sie löst sich von seinem Arm und schaut sich, halb neugierig, halb wissend um. Geht um das Bett herum zu der Anrichte und betrachtet sich eine Weile sehr aufmerksam im Spiegel. Schließlich legt sie das Handtäschchen auf das Bett, zieht die Handschuhe aus, legt sie sorgfältig daneben, nimmt danach den Hut ab und legt auch den auf das Bett. Zum ersten Mal sieht er die beiden neckischen, kurzen Pferdeschwänzchen, die ihm einen Tick zu jung für eine Frau ihres Alters vorkommen, die ihr aber ein gewisses unschuldiges Aussehen verleihen. Nun setzt sie sich selbst auf das Bett, nimmt das Handtäschchen, öffnet es, kramt darin und zieht einen Lippenstift heraus. Sehr sorgfältig fährt sie die Konturen ihres kleinen Mundes nach. Sie verreibt die grellrote Farbe, indem sie die Lippen mehrfach hin und her bewegt und aufeinander presst. Zum Schluss holt sie noch ein Döschen aus dem Täschchen und trägt mit einem winzigen Wattebausch Rouge auf die Wangen. Auch das Rouge ist von kräftiger Farbe und sie sieht nun aus wie eine Konkubinen aus einer Pekingoper.

Er ist die ganze Zeit neben der Tür stehen geblieben und hat interessiert ihre Verschönerungsarbeit verfolgt. Nun, da sie fertig ist, austeht und sich ihm zu wendet, erwartet er, dass sie anfangen möge sich auszuziehen, sich auf das Bett zu legen oder auf ihn zuzukommen. Doch was nun folgt, erstaunt und irritiert ihn erneut, denn sie fordert ihn mit einer unmissverständlichen Handbewegung auf, seine Hose auszuziehen. Er schaut sie ungläubig an, obwohl ihm natürlich klar ist, dass Gong Li nicht nur wegen des Schminktischs auf sein Zimmer gekommen ist. Aber die direkte Art und Weise wie diese so simpel, so ländlich und unbedarft wirkende Frau die Initiative ergreift, wie sie ihre Vorstellung von dem tête à tête durchsetzt, ja ihn regelrecht instrumentalisiert, verwundet ihn.

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