Claudia erhält Asyl

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Claudia erhält Asyl

Claudia erhält Asyl

Anita Isiris

Der Kran schwenkte gegen links, und nur das vorderste Drittel des feuerroten Schwenkarms war sichtbar, so neblig war jener Freitag, an dem Claudia sich erschöpft auf der morschen Holzbank am Fluss niederliess.

Auf dieser Bank hatte sie sich ihrem Ex-Mann Marc oft hingegeben; vertieft in Zungenküsse, nervös an ihrer Sommerbluse nestelnd, ihn zärtlich berührend, verschämt seinen harten Schwanz streichelnd.

Der Sommer lag nun weit zurück – nicht nur die Jahreszeit, sondern auch der Sommer der ehelichen Beziehung. Auch der Winter war, was das Liebesleben angeht, schon längst überschritten gewesen und hatte sich massiven Minustemperaturen genähert, als es dann endlich zur Scheidung gekommen war. Fast erleichtert hatten sie beide das Scheidungsamt verlassen, waren froh gewesen, den mitleidigen Blicken der Laienrichterinnen entrinnen zu können, als er dann tatsächlich stattgefunden hatte: Der letzte, allerletzte Händedruck auf der Sandsteintreppe. Nach insgesamt 10 Jahren Beziehung.

Erst im Vorortszug war Claudia von ihren Gefühlen übermannt worden und hatte haltlos geschluchzt, allein im Wagenabteil. Sie wusste, dass schwere Zeiten auf sie zukommen würden, Zeiten, in denen sie allein ihr Abendbrot zubereiten, allein auf dem Sofa sitzen und vor allem – und das war für sie das Schlimmste – allein einschlafen würde.

Derart in Gedanken vertieft, hatte sie ihn kaum wahrgenommen: Den dunkelhäutigen Mann, der, in einen warmen Mantel gehüllt, an ihrer Flussbank stehen geblieben war. Das Erste, was sie realisierte, waren die Wasserdampfwölkchen, die er ausatmete, als er sich schweigend neben ihr niederliess. Seine riesigen Hände. Dann, das Gesicht. Die Lippen. „Are you alone?“, fragte er sie – als ob das nicht offensichtlich gewesen wäre.

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