„Du wirst mir Annina vollständig überlassen müssen, egal was ich mit ihr mache. Das ist Teil deiner eigenen Seelenreinigung, deiner Katharsis. Das Loslassen.“ Der Hirschmann leckte sich lüstern, aber auch selbstzufrieden die Lippen. Der Deal bestand darin, dass der Hirschmann Ole das komplette Studium finanzieren würde, Vorschuss inklusive. Dieser Vorschuss war bereits eingetroffen. An eine Elite-Uni hätte es Ole sonst nicht gereicht, aber die Online-Treffen mit dem Hirschmann waren seine Chance. Seine einzige, echte Chance. Es hatte Ole einiges an Widerstand gekostet, dem Führer der Hirschwald-Kommune Fotos von seiner Annina zukommen zu lassen, Bilder, auf denen weit mehr zu sehen war als ihre blonden Locken, Anninas strahlende Augen und ihre trotzig aufgeworfenen Lippen.
Gerade eben erst hatten sie noch den gemeinsamen College-Abschluss gefeiert, Ole, Annina, Sven und Silja. Sven gehörte zu den Männern, die alles bumsten, das einen Puls hat, aber Annina hatte sich ihm immer entziehen können, ganz anders als ihre beste Freundin Silja. Diese war Sven sexuell komplett verfallen, die beiden waren aber kein Paar im herkömmlichen Sinn. Den Hirschmann hatte Ole im Internet kennengelernt, auf einer dieser Plattformen, die nur Insidern vorbehalten sind. Eintritt erhält man nur dann, wenn das Motivationsschreiben akzeptiert wird; ein Schreiben, das den inneren Drang, der Hirschwald-Kommune anzugehören, zweifelsfrei ausdrückt. Der Hirschmann, gleichsam der eigentliche Häuptling der Kommune, dem dort bis zur letzten Kaffeetasse, bis zum Schuhabtreter alles gehörte, wollte auf diese Weise vermeiden, dass sich so genannte „Nicht-Kommunale“ einschlichen, etwa Detektive und Polizisten, die ihm auf die Schliche hätten kommen können. Der Hirschmann war promovierter Psychologe und mit allen Wassern gewaschen, was die zwischenmenschliche Kommunikation sowie die Selbstreflexion angeht.
Das Ritual
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