Das Angebot

Eine Hommage an Balthus

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Das Angebot

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Tobias Falberg

Bis zu jenem ungewöhnlichen Bibliotheksbesuch lebte Magnus Roth ein normales Leben. Er war knapp über dreißig, arbeitete sehr einträglich als Vertriebler für Computerhardware, was ihm in den zurückliegenden Boomjahren des Internets und des Neuen Marktes enorme Erlöse eingebracht hatte und fortlaufende Prämien auf Jahre hinaus sicherte. Seine Wohnung lag im begehrtesten Viertel der Stadt, nahe der Universität. Von seinem Balkon blickte er über die Pappelallee direkt in die kräftigen Baumkronen der Eichen und auf die mit Strauchpassagen durchmischten grünen Wiesenflächen des Nordparks. Roth wohnte als Single für sich allein. Er war athletisch gebaut, verfügte über einen eisblauen Schlafzimmerblick, dem Frauen nur selten widerstanden, und besaß noch dazu eine Leidenschaft für Kunst und teure Restaurants.
So brachte er häufig attraktive Frauen mit nach Hause, die sich im Bewusstsein über den Status des heiratsfähigen, gut verdienenden Mannes sehr erregt und offen präsentierten und die während des Liebesaktes eine kraftvolle, Roths Willen zur Freiheit betäubende Verführung verströmten.

Doch Roth blieb standhaft, blieb allein, genoss lieber die wechselnden Temperamente: die gut erzogene, leise wimmernde Hingabe; das mühsam unterdrückte, aber desto stärker hervorbrechende Stöhnen; die selbstbewusst ihr Recht fordernde Frau ...
Das reiche Angebot dieser anziehenden Geschöpfe, ob langbeinig den stolzen Körper biegend oder kräftiger gebaut, mit vollem Busen und weichen, sich anschmiegenden Formen, ließ ihn vor jeder festen Bindung zurückschrecken. Viel lieber betrachtete er diese Körper, nahm Gelegenheiten wahr, blickte besonders den jungen Frauen, den reifenden Mädchen schwärmerisch nach.
Dann kam jener Tag im April. Roth war geschäftlich unterwegs in einer kleinen, ihm aus Jugendzeit vertrauten Stadt; hier hatte er seine erste Ferienarbeit als Verkäufer gefunden. Sein Termin ließ ihm noch eine Stunde freie Zeit. So schlenderte er bei klarem, sonnigem Himmel die altertümlichen Gassen entlang. Vieles erkannte er wieder: die alte Räucherei, den Marktplatz mit seinen blank gelaufenen Pflastersteinen, das Kirchentor, an dem der große Reformator einst seine Thesen angeschlagen hatte. Es war schön, die Erinnerungen aufleben zu lassen, den unbeschwerten Blick des Jungen, aber es stimmte ihn auch melancholisch, an all die verflossene Zeit zu denken.
Er sah auf die Uhr. Sein Termin rückte näher. Weil er vorher noch auf die Toilette wollte, ging er in die Stadtbibliothek, nahe dem Marktplatz. Alles dort war sehr klein, fast schäbig, die Bücherregale eng zusammengepresst, die Auswahl nichtig, wie er auf der Suche nach der Toilette feststellte. Niemand kam hierher. Nur eine alte Frau mit schlohweißem Dutt und grobmaschiger Strickjacke, deren Farbe sich dem ausgeblichenen Sitzbezug ihres Polsterstuhles anglich, kauerte an einem Tisch und beaufsichtigte die Räume.
Roth wand sich durch die Regale, folgte einem abbiegenden Flur, fand aber nicht die Tür, die er suchte. Er blieb stehen, überlegte, die Frau zu fragen, ob es hier überhaupt eine Toilette gab, schüttelte den Kopf und griff aufs Geratewohl ein Buch heraus. Nach kurzem Blättern in den stockfleckigen Seiten wollte er das Buch zurückstellen, aber es fügte sich nicht mehr ein. Er schob, drückte, schlug schließlich ungeduldig auf den Buchrücken. Die Reihe passte wieder. Im selben Moment fiel aber hinten etwas aus der offenen Rückseite des Regals zu Boden.
Vorn hörte er den schweren Polsterstuhl übers Parkett scharren. Roth beugte sich verärgert hinab, lugte durch die Regalbretter, sah das heruntergefallene Buch und daneben, in der versteckten Nische eines Wandvorsprungs, einen großformatigen Band, als hätte ihn jemand ganz bewusst dort deponiert, um ihn vor Entdeckung zu bewahren. Neugierig geworden entfernte Roth einen Packen Bücher und griff weit nach hinten, um an das versteckte Exemplar heranzukommen. Der Leineneinband, dessen hautähnlicher Pastellton aus sich heraus zu leuchten schien, schmiegte sich wie von selbst an Roths Finger. Laut Ankündigung auf den Deckblättern hielt er den Bildband eines ihm völlig unbekannten Malers in der Hand, blätterte hinein und war sofort überwältigt: in seltsam schimmerndem Licht, zwischen Katzen, Kelchen und Spiegeln dunkler Räume, zeigten sich entblößte Körper blutjunger Mädchen, einige lasziv hingestreckt, schlafend, manche in Betrachtung von Spiegeln versunken, stehend an sonnenrandigen Fenstervorhängen oder beim Kämmen ihrer Haare.
Roth war bereits gefesselt und aufgewühlt, da durchfuhr es ihn beim Anblick des nächsten Modells. Das Mädchen lehnte in einem Stuhl, wandte das makellose Gesicht dem Betrachter zu, eingerahmt von kinnlangem, brünetten Haar, seitlich gescheitelt, gehalten von einer einfachen Haarnadel. Es trug eine leichte rote Stoffjacke mit aufgestelltem Kragen und einen dunklen Rock, der die nackten, übereinander geschlagenen Beine weit über die Knie entblößte. Sein Antlitz war stolz und launisch, die Brauen hoben sich hochmütig, die weit offenen braunen Augen verweigerten jede Aufmerksamkeit und blickten gebieterisch am Betrachter vorbei. Roth zitterte. Voller Unruhe suchte er nach dem Titel des Bildes: Thérèse.
Als Roth wieder auf die Uhr sah, war der Termin verpasst, doch es kümmerte ihn nicht. Er vergaß auch die Toilette, versicherte sich mit einem raschen Blick nach hinten, öffnete seine Aktentasche, schob den Band hinein. Schwer atmend schritt er dem Ausgang zu. Der alten Frau warf er ein Abschiedswort hin, verschwand nach draußen und beschleunigte seine Schritte, weil hinter ihm ein Alarm schrillte. Langsamer wurde er erst, als er der Nebenstraße und gleich dem nächsten abzweigenden Gässchen gefolgt und sicher war, dass niemand ihm nachlief. Er sagte den Termin endgültig ab und fuhr nach Hause, wo er die Nacht schlaflos damit verbrachte, dieses unwiderstehliche Wesen, Thérèse, zu betrachten und es in seine Fantasien zu ziehen.
Es folgten Tage, in denen er sich nur dem Bildband widmete. Als erfolgreicher Vertriebler besaß er bei der Arbeitseinteilung weitgehend freie Hand. So durchstöberte er das Internet, Bibliotheken, Buchhandlungen, Archive, dickbändige Lexika – völlig ergebnislos. Nirgends tauchte der Name des Malers auf, das Buch, in dem seine Thérèse existierte, das Buch, mit dem er Stunden und Tage im Rausch verbrachte, schien es offiziell gar nicht zu geben. Er war glücklich, die Bilder zu besitzen, doch die Unmöglichkeit, mehr über den Maler und sein Modell zu erfahren, verbitterte ihn.
Bei seiner verzweifelten Suche klammerte er sich an jede noch so weit hergeholte Verbindung. Ihm fiel ein Programmtip auf, „Die schöne Querulantin“, ein älterer Film, der in einem kleinen Kino lief und auf Balzacs Novelle „Das unbekannte Meisterwerk“ basierte. Jener kleine Zusammenhang genügte ihm. Am selben Abend bog er nach einigem Suchen nahe des Bahnhofs in eine schummrige Seitenstraße ein, fand dort eine angelehnte Tür mit Messingknauf, auf der eine verwischte Kopie des Filmplakats klebte und ging hinein. Er folgte einer Treppe nach unten und betrat kurz darauf den schwarz ausgekleideten, muffigen Vorführungssaal.
Im Hintergrund surrte das Vorführgerät, der Film lief bereits. Neben Roth saß ein Mann etwa gleichen Alters, der sich zu ihm hindrehte und nickte, als hätte er Roths Ankunft erwartet. Der Mann roch stark nach Rauch. Sein Blick war durchdringend trotz der Dunkelheit.
„Sie suchen etwas“, sagte der Fremde ganz selbstverständlich und wies Roths verdutzten Blick in eine vordere Reihe.
Roth erstarrte. Dieses Profil! Es zeigte zweifellos Thérèse! Jedoch erstarb ihm der geliebte Name in seiner Kehle, als sich das Gesicht dort vorne ihm zuwandte und das eines fremden Jungen war.
„Deine Augen haben dich nicht getäuscht“, sagte der Mann. „Willst du sie treffen? Dann komm.“
Als sie in der dunklen Seitenstraße standen, wiederholte der Mann:
„Willst du sie treffen?“
Roth hatte das Gefühl, in einen Spiegel zu blicken.
„Was muss ich dafür tun?“, fragte er.
„Nichts. Gar nichts. Du wirst nur ein weiteres Angebot von mir erhalten.“
Kaum hatte Roth genickt, stand er in einem taghellen Raum. Thérèse, seine Thérèse!, lag in einem Stuhl und posierte für den Maler, dessen Gesicht durch die Staffelei verdeckt wurde. Verwirrt von so viel unerwartetem Glück, sprach Roth die beiden an, stotterte, merkte aber bald, dass er für sie nicht existierte. Er schritt auf Thérèse zu, betrachtete ihr Gesicht, ihre bewegten Lippen, die wachen Augen. Auf Geheiß des Malers zog sie gerade ihren Rock nach oben und winkelte ihr linkes Bein an. Sie lachte, die spitzen Erhebungen ihrer Brust zeichneten sich unter der Bluse ab. Dann wurde ihr Blick wieder ernst.
„Ich habe dich gesucht“, sagte Roth zu dem Mädchen, das ihn nicht hörte.
Schwäche übermannte ihn, er sank auf die Knie, sank an ihren Körper, fasste, umschlang sie. Doch er stieß auf eine dünne Schicht, wie von elastischem Glas, die zwischen seinen Händen und dem begehrten Geschöpf bestehen blieb. Jeder geliebte Fingerbreit der zarten Gliedmaßen wurde undurchdringlich davon überzogen. Es war unmöglich, ihre Haut zu berühren. Aber er konnte sie riechen, ihre Wärme einatmen, den Geruch frischen weißen Stoffes, den feinen salzigen Unterton, der aus den schmalen Schenkeln aufstieg, zwischen denen er sich rieb, an deren duftendes Glas er sein Gesicht, seine Lippen presste. Gerade wollte er auch ihren Hals riechen, das braune Haar, da löste sich alles auf. Er rutschte auf Knien über die schmutzigen Pflastersteine der Gasse. Vor ihm stand der Mann und sagte:
„Fordere Thérèse und sie erscheint. Schicke sie auch beliebig fort. Für jede volle Stunde mit ihr fällt ein Jahr deines Lebens. Das ist mein Angebot. Es gilt unbefristet und es steht dir frei, davon Gebrauch zu machen.“
Mit diesen Worten verschwand der Mann in der Dunkelheit.
Roth war wie vom Schlag getroffen. Was war das für ein Angebot? Er konnte nicht anders, als es sofort zu versuchen. Und tatsächlich, Thérèse erschien, sooft er den Wunsch aussprach! Ein anderer Raum. Viele Räume. Oft Thérèse allein, verträumt, beim Spielen, beim Waschen. Er betrachtete sie, trank ihre Erscheinung, roch ihren Duft, den Mund, Haar, rosige Haut. Nur Minuten erlaubte er sich, doch spürte er jede einzelne als zähen Gliederschmerz seine Tage beschleunigen.
Sein Verlangen nach Thérèse ließ nicht nach. Es wuchs stetig und verbrauchte alle Energie, die sein Körper und seine Vorstellungskraft aufzubringen vermochten. Aus den Minuten wurden Viertelstunden, kleine Ewigkeiten, die wie Gift an ihm zehrten. Fand er dann aus den farbigen Welten in die Realität zurück, verfluchte er sich für seine Schwäche, verachtete sich und stürzte, erschöpft und niedergeschlagen, sofort wieder in die Tiefen dieses Taumels hinab, haltloser denn je, wie um sich zu betäuben.
Alles, was Roth noch beschäftigte, war die vorangegangene Zusammenkunft mit Therese und das Verlangen nach der nächsten. Gelang es ihm manchmal, sich länger von ihr fern zu halten, strömten die Bilder danach umso intensiver auf ihn ein und es waren neue, besonders verführerische Situationen, in denen er Thérèse vorfand.
Roth entfernte sämtliche Spiegel aus seiner Wohnung, er brach die Spiegeltüren des Badezimmerschränkchens aus ihren Fassungen, er mied seine Freunde und hörte in der Firma und bei seinen immer selteneren Geschäftsreisen weg, wenn die Kollegen und Kunden ihn mit erschrockenen Blicken nach seinem Befinden fragten.
Als er nach einem viel zu langen Besuch bei Thérèse wieder kraftlos und mit schmerzenden Muskeln und Gelenken in der Badewanne lag, griff er unter das Waschbecken, schob den Putzeimer beiseite, hob eine der Spiegeltüren vom Boden auf und blickte hinein. Was er sah, machte ihn sprachlos. Es versetzte ihn so sehr in Angst, dass er sich jeden weiteren Besuch bei Thérèse verbot.
Unzählige Male lief er zu dem Kino zurück, durchstreifte früh bis in die späte Nacht die Gasse mit ihren feucht schimmernden Pflastersteinen, suchte alles ab, schrie sich die Seele aus dem Leib, so dass die Passanten kopfschüttelnd die Seite wechselten, aber der seltsame Mann, der vielleicht die Macht besaß, es zu beenden, blieb verschwunden.
Roth litt, tagelang, wochenlang. Er hörte auf zu essen. Ohne Thérèse besaß nichts mehr in seinem Leben eine Bedeutung. Er starb tausend Lusttode, Tode der Sehnsucht, würgender Begierde. Wie Fieber kam es über ihn, wirr, hitzig, ließ ihn zittern, die Augen schließen, den Mund stöhnend öffnen in ohnmächtiger Raserei.
Er kehrte zu ihr zurück.
Roth vernachlässigte seine Arbeit, blieb schließlich ganz aus. Seine Stelle wurde neu besetzt. Niemand sah ihn mehr, niemand erkannte ihn, um Jahrzehnte gealtert.
Vor ihm lag Thérèse. Sie schlief. Ihr Duft stieg von ihrer Haut in das nächtliche Zimmer auf, doch Roth war zu alt geworden, um ihn noch zu riechen. Tränen füllten seine Augen. Er stand dort, ein Greis, und ließ seine Minuten verrinnen, ohne weiter an Rückkehr zu denken. Vergeblich rang er nach Luft. Warm dehnte sich sein Herz aus der Brust, die Schläge verstummten. Thérèse trieb mit ihrem Bett in die Schwärze der Nacht davon.

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