Das Fenster

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Das Fenster

Das Fenster

Anita Isiris


Wenn Lukas kurz zuvor noch geglaubt hatte, am vergangenen Abend hätte ihm die Überreizung seiner Nerven einen Streich gespielt, so war er jetzt mit einemmal von der Echtheit des Mädchens überzeugt. Ihm war bis dahin bei den Frauen kein Erfolg beschieden gewesen, da er sehr scheu war und seine unruhigen Augen ständig umherirren liess, so, als suche er etwas.
Er konnte Frauen auch sehr schnell vor den Kopf stossen, was aber nicht Arroganz oder Zudringlichkeit, sondern eher eine extreme Äusserung seiner Hilflosigkeit war. Dies gipfelte in unbedachten Bemerkungen, die oft zutiefst beleidigten. Einmal hatte er eine Kollegin zum Kaffee eingeladen und unterhielt sich mit ihr über alltägliche Dinge, bis sie ganz unerwartet zu weinen anfing. "Mein Bruder sietzt im Gefängnis; lieder kann ich Dir nicht sagen, warum - er hat etwas getan, dessen isch mich sehr schäme und mit dem ich wohl nie fertig werde!"
"So etwas würde mir nie passieren!" erwiderte Lukas, der ja gar nicht wusste worum es ging und sich gut darstellen wollte. Kopfschüttelnd hatte sie sich erhoben und die Bar verlassen, ohne ihn noch einmal anzublicken.
Lukas legte sich ins Bett und konnte wieder nicht einschlafen. Noch immer wusste er nicht, was ihn am Mädchen gegenüber so gefangen nahm. Gewiss, sie war hübsch, und mit den Locken, die ihr feines Gesicht umrahmten, hätte sie bestimmt ein schönes Gemälde abgegeben. Aber - das war es wohl! - die junge Frau strahlte kein Leben aus - auch wenn ihre Augen sprühten und ihre Lippen sich bewegten. Sie wirkte auf unerklärliche Weise entrückt - wie ein gemaltes Portrait, von dem man den Blick nicht abwenden kann.
Am nächsten Morgen erwachte Lukas mit starken Kopfschmerzen. Er blieb daher den ganzen Tag über im Bett und liess seine Augen immer wieder üer die fleckige Tapete und den alten Sekretär streifen, der ganz knapp unter einer abgeschrägten Wand Platz gefunden hatte.

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