Die Mansarde (deutsch: Dachstube) des Theologiestudenten Lukas W. lag zuhinterst in einem langen Korridor, der von mehreren Türen gesäumt war. Diese führten zum Teil ebenfalls zu bewohnbaren Dachräumen, zum Teil aber auch zu schlecht isolierten, zugigen Estrichkammern, in denen sich im laufe der Jahre allerhand Unrat wie kaputtes Kinderspielzeug, ausgediente Nachttöpfe und Bastelreste angesammelt hatten.Jeder Mietpartei des fünfstöckigen Hauses waren eine Mansarde und ein Estrichraum zugeteilt. Die meisten Mansarden, früher Kammern für das Gesinde, waren im Lauf der Zeit als Gästezimmer zweckentfremdet worden; einzelne wurden an dubiose allein stehende Herren sowie an Studenten weitervermietet.
Lukas, ältester Sohn einer kinderreichen Bauernfamilie, deren grösster Stolz auch, war fleissiger Theologiestudent im ersten Semester. Nächtelang kapselte er sich in seiner "Lernburg", wie seine Dachkammer von spöttischen Kollegen bezeichnet wurde, ein und versenkte sich von allem Anfang an in Texte, die eigentlich höheren Semestern vorbehalten waren, aber sie halfen ihm, das unumgängliche Latein und Hebräisch etwas besser zu ertragen. Seine besonderen Interessen galten dem Alten Testament - verwundert stellte er fest, dass doch noch mehr Widersprüche vorhanden waren, als er sich gedacht hatte, und er war bereits in den einfachen Ansätzen der meisten Gleichnisse von der Schlüsselsprache der Bibel stark überfordert.
In solchen Momenten legte er dann sein Buch beiseite und starrte durchs Riegelfenster, unter dem sein Schreibtisch stand, in die Nacht hinaus. Und an diesem Abend entdeckte er zum ersten Mal das Gesicht. Es war das Gesicht eines Mädchens, und sie lugte hinter einem vorhanglosen Fenster hervor.
Da die beiden alten Häuser nahe zusammengebaut waren, sah Lukas, dass ihn die Augen in diesem Gesicht unentwegt fixierten.
Das Fenster
6 9-15 Minuten 0 Kommentare
Das Fenster
Zugriffe gesamt: 2038
Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen.