Der Fotograf, der Bettler und das Pelzchen

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Der Fotograf, der Bettler und das Pelzchen

Der Fotograf, der Bettler und das Pelzchen

Anita Isiris



Ich tat so, als würde ich Andry nicht kennen und ging vor ihm her durch die Spitalgasse. Die Leute unter den Arkaden waren dicht gedrängt, und es ging nicht lange, bis mich eine Frau anstiess. „Dä Ma da hinder Öich macht Fotos“. „Dieser Mann hinter Ihnen macht Fotos“. Ich lächelte ihr zu und zuckte mit den Schultern. Nahezu jede junge Frau, die mir entgegenkam und sich an Andry und mir vorbeidrückte, war bestimmt schon ohne ihr Wissen geknipst worden. Xiaomi, Huawei, iPhone, Samsung. Diskret. Im Zug etwa, wenn sie auf dem Weg von Bern nach Zürich vor sich hin dösten, mit in engen Jeans übereinander geschlagenen Beinen. Gegenüber ein Mann, der sein Handy-Display fixiert. Wer weiss heute schon, ob die Smartphone-Kamera nicht auf ihn, oder vor allem auf sie, gerichtet ist? Egal – bei all den so genannten „Creeper“ Fotos im Internet, vielen Millionen, versinkt man in der Anonymität, und es macht nichts mehr aus, ob man seinen Jeanshintern, freiwillig oder unfreiwillg, herzeigt. Jeanshintern sind nun mal fester Teil unserer exhibitionistisch-voyeuristischen Gesellschaft. Wer kein Risiko eingehen will, trägt eben Schlabberlook, die Figur verbergenden Schlabberlook. Wenn aber Frau ihren Camel Toe in der knallengen Jeans herzeigt, dann sei's drum.

So die Diskussionen, die ich mit Andry seit Jahren führe.

Dann kauerte da, auf der Höhe des Käfigturms, unter eine Sandsteinsäule, dieser Bettler. Es gibt eine Vielzahl von Bettlern in der Stadt, von Sommer zu Sommer werden es mehr – und dereinst werden wohl auch Familienväter dazu gehören, die ihre Strom- und Gasrechnungen nicht mehr stemmen können. Der Typ unter der Sandsteinsäule sah gar nicht mal so schlecht aus. Wettergegerbtes Gesicht, Schlapphut, vor sich eine leere Mütze. Klar. Man kann nicht jedem was spenden. Ich selber bevorzuge Bettlerinnen.

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Das herzige Pelzchen

schreibt SvenSolge

Was für eine herzerfrischende Geschichte. Da ich Bern etwas kenne, konnte ich den Weg gut verfolgen. Und ganz ehrlich, ich mag "Pelzchen!"

Gedichte auf den Leib geschrieben