Der Schal

Geschichten vom Anfang der Leidenschaft

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Der Schal

Der Schal

Stayhungry

Sie trug ihr pechschwarzes Haar als Pagenkopf, in exakten Linien geschnitten. Eigentlich war ihm dies ein zu strenger Ausdruck, aber es passte hervorragend zu ihren ernsten, blaugrünen Augen, deren Tiefe sie durch Wimperntusche gekonnt betont hatte. Sie war groß und blaß und sie war mager, einer dieser Hungerhaken die zwar den unzähligen fragwürdigen prominenten Vorbildern in den Frauenzeitschriften glichen, ihm aber gleich diesen einfach nur schwer unterscheidbar und in ihrem knochigen Erscheinungsbild nicht unvermittelt anziehend für Berührungen erschienen. Ein unbefangenes Essverhalten hätte ihr sicherlich eine Figur beschert, die Männer vor ihr auf die Knie sinken ließe.

All das spielte keine Rolle. Ihr Blick hatte dem seinen Stand gehalten, ihn durchdrungen und Schauer über seinen Rücken gejagt. In diesem Moment erkannte er, wie unglaublich schön sie war. Sie war zurückhaltend und zugleich offen, aufmerksam. Sogar über unbefangenem Geplauder und Momenten der Heiterkeit lag stets der Schatten ihres Ernstes, kein depressives Leiden, doch hellwaches, nachdenkliches Interesse, umspielt von einem Hauch von Melancholie. Verborgen in ihr lag eine Sehnsucht und die Luft war schwanger von ihrem unausgesprochenen, unerklärten Verlangen. Bald hatte er verspürt, dass sie von ihm Erlösung erhoffte.

*

Er liebte die Erotik der Freien. Oft genug ist die sinnlich-liebende Vereinigung getrübt von Missempfindungen, Ängsten, Vorbehalten, Abneigungen. Sie zu übergehen, bedeutet den Tod der seelischen Begegnung und verbannt den sich verzweifelt wehrenden Lebensdurst nicht selten in die Niederungen des Triebes und dann ist der Ausgang der Geschichte, die üblicherweise eine der Liebe war, ungewiß. So schätzte er es gerade nicht gering, wenn Menschen in all diesen Mühen gemeinsam einen Weg fanden, dem unverträglichen Verlangen eine verträgliche Richtung zu geben, ohne ein Urteil zu sprechen, und dies nicht als quälenden Verlust, als Niederlage zutragen, sondern als wahren Gewinn in ihrem gemeinsamen Leben zu verspüren, all die narnenlosen, normalen Leute, denen man doch an der Nasenspitze ansieht, dass sie es immer wieder schaffen. Ihm selbst war es in mehreren aufrichtigen Lieben nicht gelungen und damit verlor er alles.

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