Der Traum

Aber woher sollte diese verhärmte Frau das Wissen? Ich schwieg und wartete, was sie mir weiter erzählen würde.
Ich spürte, wie sie in sich hinein horchte. Konnte es wirklich sein, dass diese Frau hellsichtig war?
Sie holte plötzlich tief Luft und sagte dann mit gepresster Stimme, so, als wenn sie Angst davor hatte, mir etwas zu verraten, was sie eigentlich nicht sagen dürfte: „Der Fluss des Lebens wird bald kein Hochwasser mehr führen, wenn es dann dein Wille ist, solltest du zurück kehren. Mehr kann und darf ich dir nicht raten, es liegt in deiner Hand!“
Sie erhob sich abrupt und deutete mit einer herrischen Bewegung zur Tür: „Geh!“
„Aber was bekommst du von mir?“, fragte ich, weil ich ihre Dienstleistung auf jeden Fall bezahlen wollte.
„Nichts! Der erste Kunde bekommt die Beratung kostenlos von mir.“
Sie legte ihre ausgemergelte Hand auf meinen Oberarm und schob mich aus der Tür und kaum war ich die beiden Stufen runtergestolpert, knallte sie die Tür hinter mir zu.
Eigenartig, dachte ich so bei mir und ging nachdenklich zurück zu meinem Fahrrad. Mir schwirrte der Kopf, von dem, was die „Alte“ mir gesagt hatte.
Gut, sie hatte keine Details genannt und wo sollte ich den Fluss des Lebens finden, wenn er nur in meinem Traum existierte? Natürlich war der Fluss nur eine Metapher und ich war ziemlich sicher, wen sie mit der Frau meinte, die ich vor sehr langer Zeit mal sehr enttäuscht hatte. Sollte es sich wirklich um meine Jugendliebe handeln?

-*-

Ich hatte Inga vor über dreißig Jahren das letzte Mal gesehen. Damals waren wir beide noch verheiratet und wir hatten uns durch Zufall wiedergetroffen und unsere Liebe, die wir in unserer Jugend nicht erkannten oder aufgrund meiner Schüchternheit nicht ausleben konnten, brach über uns herein. Wir holten alles nach, was wir uns in den letzten Jahren, bei einem eventuellen Wiedersehen erträumt hatten.
Wir trafen uns fast jede Woche. Liebten uns im Auto oder in versteckten Winkeln des Waldes. Wir nutzten jede Gelegenheit, wenn unsere Partner abwesend waren.