Der Wolf in der Stadt

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Der Wolf in der Stadt

Der Wolf in der Stadt

Chloé d'Aubigné

Sie hatte gar nicht damit gerechnet, dass eine Nachricht kommen würde. Von so einem leeren Profil schon gar nicht. Doch noch am selben Abend leuchtete eine Nachricht auf dem Display auf.
„Du hast mich gewählt. Warum?“
Eine einfache, fast unhöfliche Frage. Kein lächelnder Smiley, kein belangloses „Hallo“.
Sie starrte auf die Nachricht, als müsse sie überlegen, ob es eine Falle war. Dann tippte sie: „Weil es mich neugierig gemacht hat. Keine Bilder, keine Infos. Und doch so viel in nur einem Satz.“
Die Antwort kam ungewöhnlich schnell: „Man muss nicht viel preisgeben, wenn man weiß, was man will. Weißt du, was du willst?“
Sie biss sich auf die Lippe. Der Ton war anders als alles, was sie bislang erlebt hatte. Kein Mann hatte sie zuvor mit solcher Direktheit angesprochen. Es war weder plump noch anbiedernd – eher wie ein Lehrer, der eine ernsthafte Frage stellt.
Nach kurzem Zögern schrieb sie zurück: „Ich weiß, dass ich keine Beziehung will. Ich bin nur ein Jahr hier. Mehr nicht.“
Längere Stille. Dann: „Also suchst du Ablenkung.“
Sie fühlte sich ertappt, obwohl es genau so war. Sie antwortete halb trotzig: „Ja. Aber eine, die ich niemals vergessen werde. Was dagegen?“
Wieder dieses markante Schweigen, das beinahe spannungsvoller wirkte als die Antworten selbst. Schließlich: „Nein. Ablenkung kann wertvoll sein. Manchmal ist sie intensiver als alles, was man sich für die Ewigkeit vornimmt.“
Sie erwischte sich dabei, dass sie über diesen Satz länger nachdachte, als ihr lieb war. Wer war dieser Mann, der so schrieb? Sie scrollte erneut zu seinem Profil, als hätte sie ein Bild übersehen, ein Alter, einen Anhaltspunkt. Nichts. Nur das dunkle Versprechen von Anonymität.
Am nächsten Abend kam die nächste Nachricht. Diesmal länger:
„Ich bin ein Dom. Ich bewege mich in Kreisen, in denen es darum geht, Kontrolle auszuüben – und sie zu schenken. Ich weiß, dass der Gedanke dich vielleicht zurückschrecken lässt. Du musst nichts erwidern. Aber wenn du neugierig bist, können wir reden.“
Ihr Herz schlug schneller. Sie verstand den Begriff, hatte aber keine Erfahrung damit. In ihrem Kopf war BDSM ein Konstrukt aus oberflächlichen Artikeln in Zeitschriften, flüchtigen Andeutungen von Freundinnen, halben Klischees. Nichts, womit sie glauben wollte, dass es zu ihr passen könnte.

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