Der Wolf in der Stadt

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Der Wolf in der Stadt

Der Wolf in der Stadt

Chloé d'Aubigné

Und doch, noch bevor sie sich selbst überzeugen konnte, schrieb sie: „Ich habe keine Erfahrung damit. Und ich glaube nicht, dass das meinem Charakter entspricht. Aber… ich bin neugierig.“
Die drei Punkte am Bildschirm blinkten. Sie wartete, spürte die Hitze in ihren Wangen.
„Neugier ist oft das ehrlichste Bekenntnis. Ich werde dich nicht drängen. Ich lade dich nur ein. Wenn du willst, treffen wir uns. Nicht im Netz. Ich will sehen, ob du die Offenheit, die ich spüre, auch im Gespräch zeigen kannst.“
Sie atmete tief durch. Sie war sich nicht sicher, was sie mehr reizte – die Aussicht, ihn zu sehen, oder die Gefahr, dass all das, was sie gerade schrieb, plötzlich sehr real werden könnte.
Sie hatten sich auf neutralem Boden verabredet – ein klassisches Café in der Altstadt, nichts Verdächtiges, nichts, das man nicht auch mit einem Kollegen oder Bekannten hätte betreten können. Trotzdem klopfte ihr Herz heftig, als sie die Tür öffnete und suchend den Raum überblickte.
Er stand sofort auf, als er sie sah. Das überraschte sie. Nicht wegen der Geste an sich, sondern wegen der Selbstverständlichkeit, mit der er es tat. Als gehörte ihm bereits der Rhythmus dieser Begegnung.
Er war älter, wie er es angedeutet hatte. Vielleicht Ende vierzig. Sein Haar dunkel, an den Schläfen von einem silbrigen Schimmer durchzogen; seine Kleidung unaufdringlich elegant, ein dunkles Jackett, weißes Hemd, schmale Uhr am Handgelenk. Alles an ihm wirkte gepflegt, aber nicht übertrieben.
„Du bist pünktlich.“ Seine Stimme war ruhig und tief, und während er es sagte, hielt er ihr den Stuhl entgegen.
„Natürlich“, erwiderte sie, etwas verlegen.
„Das ist keine Selbstverständlichkeit“, meinte er und lächelte leicht. „Auch in meiner Welt nicht.“
Sie spürte, wie ihr die Kehle ein wenig trocken wurde. Er sprach, als gäbe es «seine» Welt tatsächlich – eine eigene, abgeschlossene Ordnung, in welche sie dank ihm vielleicht einen Blick würde werfen dürfen. Eine Welt, zu welcher er ihr den Schlüssel reichen, in welcher er ihr Reiseführer sein könnte. Eine Welt, von der sie aber noch nicht wusste, aber sie sie wirklich aktiv entdecken wollte.

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