Der Wolf in der Stadt

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Der Wolf in der Stadt

Der Wolf in der Stadt

Chloé d'Aubigné

Das Gespräch begann unverfänglich: ihre Zeit in der neuen Stadt, die Unterschiede zur Heimat, seine Andeutungen über Beruf und Reisen, ohne ins Detail zu gehen. Aber selbst die banalsten Themen trugen eine gewisse Spannung, weil er jede ihrer Antworten genau aufzunehmen schien, als prüfe er sie still. Teilweises fühlte sie sich wie in einem Bewerbungsgespräch, teilweise wie im Gespräch mit einem alten Freund, der all ihre Geheimnisse kannte. Er hörte ihr mit einer Intensität zu, die sie nicht gewohnt war. Gab ihr das Gefühl, für ihn in diesem Moment das Wichtigste zu sein, was es gab. Gab ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit.
Nach einer Weile beugte er sich etwas vor. „Ich möchte dir einen Vorschlag machen – wenn du einverstanden bist.“
Sie nickte unwillkürlich.
„Nenn mich Wolf. Nicht bei meinem bürgerlichen Vornamen. Für heute Abend gilt das als Regel.“
Sie wollte zuerst lachen – es klang zu klischeehaft. Doch als er sie dabei fest ansah, spürte sie, dass es nicht bloß ein Spiel war, sondern ein erster kleiner Schritt in eine neue Welt. In «seine» Welt. Also sagte sie: „Gut. Wolf.“
Er hob leicht den Kopf, zufrieden. „Das war nicht schwer, oder?“
„Nicht wirklich.“
„Dann eine zweite Regel: Wenn du mir antwortest, sieh mich an. Immer. Keine gesenkten Blicke, kein Ausweichen. Du wirst mich ansehen und mit mir reden, nicht mit dem Boden oder Deiner Umgebung.“
Sie schluckte, aber tat es. Seine Augen waren dunkel und fordernd, doch nicht hart. Eher wie jemand, der eine Antwort mit größter Ernsthaftigkeit erwartet.
«Ja, Wolf, das werde ich machen», erwiderte sie – mit festem Blick in seine Augen.
Er lehnte sich wieder zurück, als hätte er damit bereits genug erreicht. „Es gefällt mir, dass du es ausprobierst, ohne zu diskutieren. Offenheit ist selten. Sehr selten.“
Und während sie seine Worte hörte, erkannte sie, dass sein Lächeln nicht das einer bloßen Galanterie war, sondern ein zufriedenes, inneres Nicken – so, als hätte sie eine kleine Prüfung bestanden.
Sie tranken Kaffee, sprachen weiter. Doch unterschwellig lag etwas in der Luft, das nichts mit der Wahl des Cafés, dem Abendhimmel oder den Themen zu tun hatte. Es war seine Art, wie selbst in den alltäglichsten Fragen etwas Herausforderndes lag. Es war seine Art, die sie nicht definieren konnte – und die sie gleichzeitig mehr anzog, als ihr lieb war.

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