Die Stadt hatte ihr von Anfang an ein abweisendes Gefühl gegeben, wie eine Art Durchzugsort, wie ein Hotelzimmer, in dem man zwar lebt, aber nie ganz ankommt. Die Fassaden wirkten kühler als in ihrer Heimat, die Straßen breiter, der Himmel ein wenig grauer – doch vielleicht war das nur ihre Stimmung, die sich auf alles legte. Seit gut zwei Wochen war sie hier, hatte ihre Wohnung eingerichtet, wie man ein Provisorium so einrichtet: praktisch, aber ohne Liebe.
Es war nicht die Trennung an sich, die sie beschäftigt hielt, eher die Leere, die sie danach feststellte. Ihr Freund hatte schon vor ihrem Umzug ahnen lassen, dass er diesen Schritt nicht mitgehen würde. „Ein Jahr ist lang“, hatte er gesagt, „und danach, wer weiß, was dann kommt.“ Sie hatte noch versucht, ihn zu überzeugen, dann war sie irgendwann zu müde gewesen – und hatte ihn gehen lassen.
Nun war sie also allein, und allein bedeutete auch: zum ersten Mal seit Jahren frei. Ein Gedanke, der ihr ein wenig Angst machte und sich zugleich wie ein Abenteuer anfühlte. Sie wusste, dass sie hier keine Wurzeln schlagen wollte. Ein Jahr, nicht länger. Damit war ausgeschlossen, dass sie sich ernsthaft binden würde. Und doch – der Körper verlangte nach Nähe, die Nacht nach Wärme, das Herz nach einer Art Ablenkung, bevor es wieder heimkehren konnte. Auch wenn sie es sich selbst nicht so offen eingestehen wollte: Sie sehnte sich nach einem erotischen Abenteuer, das sie nie wieder vergessen würde. Denn wann, wenn nicht jetzt, war die perfekte Zeit dafür?
So kam es, dass sie an einem dieser regnerischen Abende die App installierte, vor der sie sich bisher stets gescheut hatte. Ein paar Wischbewegungen, Gesichter, Profiltexte – und dann ein Konto, das anders war. Kein Foto, kein Instagram-Link, nichts, was einem augenblicklich gefiel oder missfiel. Nur ein Satz stand da: „Ich zeige mich, wenn du bereit bist, zuzuhören.“
Normalerweise hätte sie längst weitergewischt, aber irgendetwas ließ sie den Daumen innehalten. Etwas an der Schlichtheit, der Vorsicht, dem dunklen Versprechen, das hinter so wenigen Worten stand. Sie lachte halb über sich selbst, als sie ihm ein Like gab. Es war etwas, das man kaum Entscheidung, sondern eher ein Impuls nennen konnte. Der erste kleine Schritt in eine Richtung, die sie nicht benennen konnte. Der erste Schritt, etwas Neues zu probieren, das sie zuvor noch nie gewagt hatte.
Der Wolf in der Stadt
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Der Wolf in der Stadt
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