Der Zettel

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Der Zettel

Der Zettel

Yupag Chinasky

„Du gefällst mir. Ich komme in einer Stunde auf dein Zimmer“. Das stand auf dem mehrfach gefalteten Zettel, den ihm die Frau auffallend beiläufig auf den Tisch gelegt hatte, als sie an ihm vorbei, hinaus aus dem Restaurant, hinein in die Dunkelheit des späten Abends ging. Als er, nachdem er ihn entfaltet, überrascht und ungläubig, die wenigen Worte gelesen hatte und wieder aufschaute, hatte sie den Raum schon verlassen.

Was hatte das zu bedeuten, überlegte er. War das so gemeint, wie es da geschrieben stand? Er sollte dieser Frau gefallen? Oder wollte sie ihn reinlegen, einfach nur verarschen?. Warum hatte sie ihn nicht angesprochen? Warum hatte sie nicht gewartet, wie er reagieren würde? Er dachte nach und kam zu keiner Antwort, deswegen überlegte er sich, wann eigentlich diese seltsame Geschichte angefangen hatte. Beim Frühstück? Nein, eigentlich schon früher. Sie hatte mit einem Versäumnis angefangen, dem Versäumnis, sich rechtzeitig um ein Zimmer zu kümmern. Deswegen und nur deswegen war er hier in diesem ziemlich seltsamen Hotel hängen geblieben. Er hätte sich viel lieber ein besseres genommen, eines mit drei oder vier Sternen und einem guten Namen, aber die waren alle ausgebucht. Und nicht nur die, im Zentrum der Stadt war gar nichts mehr frei. Das war eigentlich zu erwarten an einem solchen Wochenende, an dem der Montag auch noch ein Feiertag war. Er hätte es wissen müssen, dass viele Touristen kommen würden, denn die Stadt ist attraktiv mit ihrem Thermalbad, dem Spielcasino und all den anderen attraktiven Einrichtungen für ihre Besucher. Was er vorher nicht gewusst hatte, was er erst merkte, als er auf dem Bahnhof angekommen war, wie immer hatte er die Bahn für solche Städtereisen benutzt, war das jährliche Stadtfest, das immer an diesem langen Wochenende stattfand. Ein Fest mit allerlei zusätzlichen Vergnügungen, mit vielen Marktständen und noch mehr Gelegenheiten zum guten Essen und Trinken, einem Markenzeichen dieser Region und für viele ein Grund, die Stadt zu besuchen. Es herrschte drangvolle Enge in den engen Gassen und auf den kleinen Plätzen der Altstadt. Er war, weiß Gott, nicht der Einzige, der auf die Idee gekommen war, die Stadt gerade jetzt zu besuchen.

Die halbe Welt war hier, alle wollten ausgerechnet an diesen Tagen diesen Ort besuchen und er, in seiner Ignoranz, hatte nicht daran gedacht, sich vorher zu informieren und sich rechtzeitig ein Zimmer zu reservieren. Aber selbst wenn er es gewusst hätte, hätte er es doch nicht gemacht, er hätte die Tatsache, dass es mit der Übernachtung Probleme geben könnte, bestimmt erfolgreich verdrängt. Er hasste Festlegungen und langfristige Planungen, ob im Leben oder auf Reisen. Er fuhr lieber auf gut Glück los. Für eine Person findet sich immer etwas, das war seine Erfahrung. Spontanität und Unabhängigkeit waren ihm wichtiger als vorausschauende Planung und Absicherung aller Eventualitäten. So etwas lag ihm ganz und gar nicht, ja, es war ihm regelrecht ein Gräuel soweit vorauszudenken. Bis jetzt hatte er sich mit dieser Einstellung ganz gut durchlaviert. Sicher, ab und zu hatte es nicht so geklappt, wie er es gerne gehabt hätte, ab und zu hatte er sein sorgloses Verhalten nachträglich bedauert, aber alles konnte man sowieso im Leben nicht regeln und eine Lösung, einen Plan B, hatte er immer gefunden. So würde es auch diesmal sein, an diesem schönen Maiwochenende, als er sich wieder einmal dumm und blauäugig in den Zug gesetzt hatte und losgefahren war. Er war sich sicher, dass er bei dem reichlichen Angebot an Unterkünften, sicher eine bekommen würde, sogar eine, die seinen durchaus gehobenen Ansprüchen genügen würde. Aber so richtig fahrlässig war es gewesen, sich nicht gleich nach der Ankunft auf dem Bahnhof auf Zimmersuche zu begeben. Spätestens dann hätte er merken müssen, dass es brenzlig werden könnte. Stattdessen begann er mit dem Sightseeing, flanierte mit den Massen durch die Gassen, neugierig, entspannen. Er vertrödelte den Tag bis in den späten Nachmittag hinein. Vertrödeln?. Nein, so negativ durfte er das im Nachhinein nicht sehen. Er hatte den Tag nicht vertrödelt, er hatte ihn gut genutzt. Er hatte viel gesehen, Menschen beobachtet, Museen aufgesucht und die Angebote des Festes vielfach genutzt. Er hatte sich gefreut, hier zu sein, in dieser Stadt, die er mochte und einigermaßen kannte. Er hatte sie auf sich einwirken lassen, hatte aufgenommen, ja geradezu aufgesaugt, was sie ihm bot. Er hatte die Stunden, die im Flug vergangen waren, voll genossen..

Erst spät am Nachmittag war ihm wieder eingefallen, dass er noch kein Zimmer hatte. Erst da hatte er sich auf den Weg gemacht und ein paar Hotels aufgesucht und in ein paar anderen angerufen, aber immer erfolglos. „Wir sind voll belegt; es tut uns leid, aber es ist kein Zimmer mehr frei. Sie Optimist, an solch einem Wochenende, hier ein Zimmer, unmöglich.“ Die Antworten waren alle ähnlich, alle ablehnend, alle deprimierend. Er hatte seine Suche schon längst auf die Ebene ohne Sterne und aus dem Zentrum in die Vororte verlagert, die deutlich weniger attraktiv waren, weg von den gepriesenen, gut bewerteten Hotels, weg von der Schokoladenseite des Tourismus, hin in Richtung Eintönigkeit, Langeweile, hin zur Normalität des Alltags der meisten Bewohner, der auch hier nicht sonderlich berauschend war. Dort, wo er noch etwas zu finden hoffte, war nicht mehr die charmante, die verführerische Stadt, die mit ihren Angeboten die Sinne betören konnte und nicht von ungefähr, jedes Jahr wahre Menschenmassen anlockte. Aber das Betören der Sinne war im Moment gar nicht wichtig. Er wollte weder auf einer Parkbank übernachten, noch gar zurück nach Hause fahren, aber auch nicht kilometerweit bis in eine andere Stadt. Wichtig war jetzt nur ein einfaches Zimmer, egal wo es lag, egal wie die Ausstattung war. Und das Glück hatte ihn wieder einmal nicht verlassen, denn er war dann doch noch fündig geworden, sein Plan B würde also doch noch aufgegangen. Aber er musste nehmen, was sich ihm bot, unbesehen, die Qual der Wahl blieb ihm zwar erspart, die Unzufriedenheit und der Ärger über sich selbst dagegen nicht. Die Frau am Telefon des „Hotels zur Hoffnung“, ein verheißungsvoller Name, sagte, ja, es gäbe noch ein Zimmer. Auf seine Nachfrage sagte sie, es habe sogar ein eigenes Restaurant, für die Hotelgäste, fügte sie hinzu. Er erklärte ihr, er würde es nehmen, sie solle das Zimmer frei halten, er würde aber erst später kommen, nicht zum Essen. Die freundliche Stimme am Ende der Leitung meinte, das sei kein Problem, aber er solle seine Kreditkartennummer bitte angeben, zur Sicherheit, falls er doch nicht käme, dann müsse man leider seine Karte belasten. Aber er wollte ja kommen, war froh, dass er noch etwas gefunden hatte und stimmte sofort zu.

Er blieb noch in der Altstadt, aß Häppchen an diversen Ständen, trank dazu guten Wein, für den die Stadt auch berühmt war. Dann merkte er auf einmal, dass es schon spät und er ziemlich müde war. Der erste Tag war doch recht anstrengend gewesen, aber er hatte ja noch zwei Tage vor sich, um noch mehr zu erleben, noch mehr zu genießen. Er versuchte ein Taxi aufzureiben, das war aber um diese Zeit schwierig und so nahm er den letzten Bus in die Vorstädte. Als er am Hotel ankam, wurden seine ohnehin nicht hohen Erwartungen nochmals gedämpft. Das Hotel „Zur guten Hoffnung“ lag an einer Durchgangsstraße, auf der und sogar noch um diese Zeit der stinkende Verkehr laut und lärmend tobte. Es war ein höchst nichtssagender, stilloser Bau, ein Haus ohne Gesicht, mit einer hässlichen, langweiligen Fassade, eingeklemmt zwischen einem Autohändler und einem Bürohochhaus, das es um das doppelte überragte. Das Ambiente in dieser Gegend konnte man vergessen, es war ein Gewerbegebiet ohne jeglichen Charme. Das Hotel wurde vermutlich vor allem von Geschäftsreisenden frequentiert, auf dem Parkplatz standen jedenfalls ein paar teure Autos, obwohl am nächsten Tag das Wochenende schon begann. So nichtssagend, ja geradezu hässlich das Hotel von außen war, so angenehm und geschmackvoll war es innen. Das Hotel „Zur guten Hoffnung“ hätte durchaus ein Haus sein können, das man sich wünscht, wenn man eine angenehme Nacht in einer fremden Stadt verbringen will oder muss, wenn nicht diese bescheuerte Lage gewesen wäre. Das Foyer war mit gedämpftem Licht beleuchtet, ein paar bunte Polstersessel und eine ausladende Theke mit der Rezeption füllten den Raum. Die Frau, die dahinter stand, schaute ihn prüfend an, als hätte sie jemand anderen erwartet, aber sie war freundlich und zumindest das war ein Lichtblick. „Sie wünschen ein Zimmer? Sie haben angerufen, sagen Sie. Nicht bei mir, wohl bei meiner Kollegin, die hat schon Feierabend, aber ich schaue gerne mal nach.“ Sie studierte ihren Bildschirm lang und ausgiebig, zu lang, fand er. „Eine Nacht?“ „Drei.“ „Wirklich drei Nächte?“ „Ja, ein Einzelzimmer für drei Nächte“ „Ein Einzelzimmer für drei Nächte, das wird schwierig. Ah, ich sehe gerade, wir hatten eine Stornierung, deswegen die Zusage meiner Kollegin. Sie haben Glück, es geht. Bei uns ist eigentlich immer Betrieb, müssen Sie wissen, auch an den Wochenenden, aber dieses ist besonders schlimm, wegen dem Fest, sie wissen ja, obwohl die Festbesucher eigentlich nicht zu uns kommen, aber wenn alles voll ist, was sollen sie machen, dann ist es ihnen egal, in welchem Hotel sie unterkommen und uns kann es nur Recht sein. Ab Montag könnten Sie so viele Zimmer haben, wie Sie wollten.“ Er lachte, sie lächelte und reichte ihm das Formular zum Einchecken, in das er aber nur seinen Namen eintragen und es unterschreiben musste. Dann bekam er eine Karte anstelle eines Schlüssels. Erst jetzt fiel ihm ein, dass er sich gar nicht nach dem Preis für das Zimmer erkundigt hatte. Die Frau nannte eine Summe, die deutlich höher war, als er erwartet hatte. Sie bemerkte sein Erstaunen, sagte aber nichts und auch er verkniff sich eine Bemerkung, was hatte er denn für eine Wahl. Sein Erstaunen nahm noch zu, als sie ihn bat, ihm seine Kreditkarte zu geben. Sie würde die Daten eingeben, das sei ihr so üblich, aber belastet würde die Karte selbstverständlich erst am Ende seines Aufenthalts. „Ich wünsche Ihnen eine angenehme Zeit in unserem Hause. Ihr Zimmer ist im dritten Stock. Dort drüben ist der Aufzug. Frühstück gibt es ab sieben Uhr im Restaurant, hier im Erdgeschoss. Mittags ist es geschlossen, aber am Abend können Sie hier wirklich gut essen, das sei jedenfalls die Meinung vieler zufriedener Kunden, die immer gerne wiederkämen“.
Der Aufzug war nicht groß und schon ein bisschen alt. Zum Glück hatte er nur eine Tasche dabei. „Wie man hier mit Koffer reinkommen soll?“, fragte er sich und drückte auf die Nummer drei. Der Aufzug rumpelte los und hielt mit einem Ruck. Das Zimmer war gar nicht so schlecht. Es war auch ziemlich klein, aber die Einrichtung war akzeptabel, wenn ihm auch die Tapete, ein stilisierter Wald mit vielen Stämmen, nicht so recht zusagte. Auch der Schnitt des Zimmers war eine problematische L-Form, weil ein Teil der eingebauten Nasszelle geopfert worden war: Waschbecken, Klo, Dusche mit Schiebetüren um die Ecke, nicht mehr neu, aber funktional. Die restliche freie Fläche des Zimmers wurde fast vollständig von einem breiten Bett eingenommen, wahrscheinlich wurde es auch als Doppelzimmer vermietet. Somit blieb gerade noch Platz eine Garderobe an der Wand, seltsamerweise gab es keinen Schrank, sowie vor dem Fenster mit Blick auf die breite Durchgangsstraße ein kleiner Schreibtisch. Zum Glück schien das Fenster solide zu sein, ein Doppelfenster mit extra Schallschutz vermutete er, denn er hörte den Straßenlärm gar nicht, erst wenn er das Fenster öffnete oder kippte, war er natürlich deutlich vorhanden. Mit einem Stoßgebet hoffte er, leise Nachbarn zu haben, keine schwerhörigen Alten mit unbezähmbarer Lust auf Dauerfernsehen, aber auch keine sexgeilen Jungen, die die ganze Nacht hindurch vögelten und ihre Emotionen nicht beherrschen konnten. Die Wände waren vermutlich dünn und hellhörig, da war er sich sicher, denn diese Art von Zimmern kannte er. Eine Nacht oder gar mehrere in einem Zimmer, in dem man alles hörte, konnte eine Tortur sein. Um so mehr wunderte ihn, dass es so teuer war, durchaus vergleichbar mit den Hotels, in denen er normalerweise übernachtete, die aber um Klassen besser ausgestattet waren. Er verließ das Zimmer und wollte noch einen kleinen Verdauungsspaziergang machen, die Gegend erkunden, aber sie war so trostlos und dermaßen uninteressant und es war natürlich auch schon dunkel, sodass er rasch wieder zurückkehrte. Die Nacht war wider Erwarten ruhig und er schlief sogar ganz gut, kein Straßenlärm, keine Geräusche aus den Nachbarzimmern und die Matratze des Betts schien von guter Qualität zu sein.

Beim Frühstück sah er sie zum ersten Mal. Er war spät aufgestanden und das Büfett, ohnehin nicht besonders ausgesucht, er hatte schon bessere, reichhaltigere erlebt, war bereits reichlich geplündert. Es waren noch ein paar Gäste da, nur ältere Männer, die ihn aber nicht interessierten. Er aß bedächtig, dann holte er sich eine der ausgelegten Zeitungen und begann konzentriert zu lesen. Als er wieder den Kopf hob, sah er sie. Sie saß an einem der Nebentische. Er hatte gar nicht gemerkt, dass sie gekommen war. Als sie sah, dass er sie überrascht anschaute, lächelte sie an,, wünschte ihm einen guten Morgen und sagte zu seiner Überraschung, dass er am Abend wohl noch nicht dagewesen sei. Er schüttelte den Kopf, aber sie vertiefte das Gespräch nicht weiter, sondern wandte sich ihrem Frühstück zu. Sie hatte schwarze lockige Haare, ein etwas mediterraner, fast schon maghrebinischer Typ. Ziemlich dunkle Haut und etwas streng drein schauende, aber nicht unfreundliche Augen. Auffallend an ihrer Kleidung waren die weinrote Bluse und ein sehr großer, beigefarbener gestrickter Schal, der um ihre Schultern drapiert war. Sie wirkte etwas abwesend, als sie ihr Müsli löffelte und im Joghurt herumstocherte und etwas verloren, als sie mit beiden Händen die Kaffeetasse umklammert hielt und von Zeit zu Zeit daran nippte. Sie schaute ihn nicht mehr direkt an, aber er warf ihr öfters verstohlene Blicke zu, wie um sich zu vergewissern, dass sie immer noch da war, denn irgendwie interessierte ihn diese Frau. Als sie später aufstand und an ihm vorbei zur Tür ging, hatte sie ein seltsames, wissendes Lächeln im Gesicht und sagte ziemlich beiläufig, „man sieht sich.“. Er war überrascht, antwortete aber nicht, sah ihr nur nach, sah nun, dass sie eine ganz gute Figur hatte, jedenfalls einen ausgeprägten Hintern in ihrer schwarzen, weiten Hose.

Den Tag verbrachte er mit einem Besuch im Thermalbad. Es war zwar voll, aber da es ziemlich groß war, störten ihn die Menschen nicht. Ein paar Saunagänge, ausgiebig schwimmen in der Halle und im Freiluftbecken, ausgiebig ruhen. Dann wieder in die Stadt, wieder etwas Sightseeing, zwei Museen, eine Sonderausstellung mit bemerkenswerten Fotos und natürlich noch einmal ein Besuch des Stadtfestes. Immer wieder musste er an die Frau beim Frühstück denken und über ihre rätselhafte Bemerkung. Er hoffte, dass er sie tatsächlich noch einmal sehen würde, dass sie nicht doch schon abgereist sei. Er malte sich aus, wie er mit ihr ins Gespräch kommen würde, wie er vorschlagen würde, am nächsten Tag ein paar Dinge gemeinsam zu machen. Mehr wagte er sich gar nicht vorzustellen, vor allem nicht, dass sie auch die Nacht zusammen verbringen könnten. Am Abend beschloss er, nicht zuletzt aus diesem Grund, im Hotelrestaurant zu essen. Er hatte sich die Speisekarte angeschaut, die beim Frühstück ausgelegt war, und war recht angetan, sowohl vom Angebot als auch von den Preisen. Es sollte ein gutes Menü sein mit reichlich Wein und dem großen Vorteil, anschließend nur noch ein paar Schritte bis in das Zimmer machen zu müssen. Das Restaurant machte einen besseren Eindruck als das Hotel selbst. Der Raum war nicht groß, aber mit modernen Möbeln geschmackvoll eingerichtet. Seltsamerweise hing an der Eingangstür ein Schild, das er erst jetzt bemerkte. „Nur für Hotelgäste oder nach Reservierung“. Das Restaurant war gut besucht, einige Männer in Begleitung von auffallend jungen Frauen, manche aber auch allein und auch ein paar Frauen ohne Anhang, die aber ausnahmslos schon gegessen zu haben schienen. Er war enttäuscht, dass seine Frühstücksfrau nicht unter ihnen war. Er wählte das Menü sorgfältig aus, bestellte. Aperitif, Vorspeise und Hauptgang, dazu passende Weine, das Angebot war gut sortiert, wie er mit Kennerblick feststellte. Später würden auch noch Nachtisch und Kaffee dazu kommen und ein Digestif oder ein schwerer Rotwein, je nach Gusto. Und dann trat doch noch das ein, was er erhofft und sich gewünscht hatte oder besser gesagt, sie trat ein, die Frau vom Frühstück, unverändert, in der gleichen Kleidung, mit dem gleichen etwas verträumten Gesichtsausdruck. Sie ging, ohne sich groß umzuschauen zu einem Tisch am anderen Ende des Raums, an dem schon eine andere, einzelne Frau saß und beide begannen sogleich, intensiv miteinander zu reden. Er war etwas enttäuscht, dass sie sofort in Beschlag genommen war und dass es kaum eine Möglichkeit geben würde, mit ihr ins Gespräch zu kommen, geschweige denn, ihr Vorschläge zu machen. Vielleicht, so hoffte er, ergab sich nach dem Essen noch eine Gelegenheit, aber, gestand er sich ein, eigentlich war er nicht der Typ, der Frauen ansprach, sie anmachte, sie aufriss. Er war eher jemand, der angesprochen werden wollte, was leider sehr selten geschah, doch gerade an diesem Abend geschah etwas, das zumindest sehr ähnlich war. Er war schon beim Dessert und spürte die Wirkung der Alkoholika, die seinen Verstand leicht eingenebelt und ihn in eine recht gute Stimmung versetzt hatten, als die Frau aufstand. Er bemerkte es sofort, weil er gerade in ihre Richtung geschaut hatte und nun schien sie ihn auch zu bemerken, denn sie kam auf ihn zu, ging aber leise lächelnd an seinem Tisch vorbei, genauso wie schon beim Frühstück, nur das sie diesmal nicht zum Ausgang ging, sondern zu den Toiletten, obwohl sie, um dorthin zu gelangen, nicht an seinem Tisch hätte vorbeigehen müssen. Aber sie hatte es getan, weil sie noch etwas anderes getan hatte, das ihn wieder sehr überraschte. Diesmal war es nicht eine Bemerkung, sondern der eng gefaltete Zettel, der neben seinem Teller lag.

„Woher kennt die meine Zimmernummer,“ ging es ihm durch den Kopf, als sich die erste Überraschung gelegt hatte. „Meinte die das so, was da geschrieben stand? Was will sie von mir? Vermutlich Geld, alles andere wäre zu schön, um wahr zu sein.“ Er sah auf die Uhr. Es war kurz nach acht. Bis neun hätte er Zeit, Zeit genug, um sein Essen in aller Ruhe zu beenden. Aber, warum dieser Zettel? Warum hatte sie ihn nicht angesprochen. Sie hätten alles in einem kurzen Gespräch klären können. Er hätte sie sogar zum Nachtisch eingeladen. Er würde warten, bis sie von der Toilette zurückkäme und sie dann ansprechen. Aber sie kam nicht und es war schon Viertel vor neun. Er sollte jetzt auf sein Zimmer gehen und sie auf jeden Fall erst einmal empfangen, diese seltsame Frau mit ihrem unkonventionellen Zettel. Er könnte ja dann immer noch sagen, sie solle wieder gehen. Aber wenn es tatsächlich stimmen würde, wenn er ihr tatsächlich gefallen würde, was dann? Er hatte von solchen Vorkommnissen gelesen, dass eine gut betuchte, unabhängige, liberale Frau sich spontan einen Mann für eine Nacht auswählte, ohne finanzielle Absichten, nur der sinnlichen Freuden wegen. So wie unzählige Männer, unzählige Frauen zu jeder Tages- und Nachtzeit auswählten und sie für ihre Liebe bezahlten. Wo gab es solche Situationen, in denen Liebe ohne Geld möglich wäre? Wo traf man solche Frauen? Vielleicht in angesagten Bars oder Diskos. Wo fanden Männer seines Alters, Frauen, die nicht nur wegen des Geldes mit ihm schliefen? Das war wohl nur im Märchen möglich, aber genau solch ein Märchen schien sich anzubahnen und eine der Hauptpersonen wäre er und die andere, diese Frühstücksfrau., Die Möglichkeit, dass ein Märchen wahr werden könnte, beschäftigte ihn sehr und schon die Vorstellung, dass sie tatsächlich kommen würde, machte ihn glücklich. Er bestellte rasch noch einen Whisky, keinen weiteren Rotwein, der wirklich gut war, aber er musste einen halbwegs klaren Kopf behalten und durfte dem süßen Schlaf, der ihn gewöhnlich nach einem solchen Diner, heimsuchte, keinen Zutritt lassen.

Um zehn vor neun ging er in sein Zimmer und wartete ungeduldig. Sollte er noch einmal duschen, für alle Fälle? Nein, dazu hatte er jetzt keine Zeit mehr und es war auch nicht nötig, er roch gut. Noch ein kleiner Whisky aus der Minibar, zur Zähmung er Neugier und zur Beruhigung der nun doch ziemlich aufgewühlten Nerven? Lieber nicht, er musste fit bleiben, schließlich erwartete sie ja etwas. Um neun geschah nichts. Auch um zehn nach neun war sie noch nicht da. Er war enttäuscht. Hatte sie ihn doch nur verarscht? Aber der Zettel war doch da, er vergewisserte sich, dass er in seiner Hosentasche war, und holte ihn heraus. Die Schrift, merkte er erst jetzt, war ziemlich rund und kindlich, jedenfalls sehr weiblich. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Er dachte noch darüber nach, als mit etwa fünfzehn Minuten Verspätung, jemand leise an die Tür klopfte. Er öffnete und da stand die Frühstücksfrau, diesmal ohne Schal und sagte, statt einer Begrüßung, „Vielen Dank, dass ich kommen durfte. Mein Name ist Angélique und wie heißt du?“ Aber es schien, als wollte sie weder seinen Namen wirklich wissen noch sonst etwas über ihn. Sie begann sofort und sehr professionell ihn zu umarmen, ihren Körper an seinen zu drücken. Als er den Mund aufmachte, um ein paar Antworten auf seine Fragen zu bekommen, legte sie ihren Zeigefinder auf seinen Mund und sagte, all die Nebensächlichkeiten könnten sie später besprechen, jetzt sollten sie lieber die Zeit nutzen und zum Wichtigsten kommen. Dann begann sie, sein Hemd aufzuknöpfen und seine Hose herunterzuziehen. Ob sie sich selbst ausziehen solle oder ob er es gerne täte, fragte sie ihn, der immer noch ziemlich perplex war, wie rasch und unkompliziert und ohne Verhandlungen und Absprachen und Geldforderungen die Sache ablief. Sie glaubte wohl, er sei etwas verunsichert und so zog sie sich, nachdem sie ihn entkleidet hatte, selbst aus. Nun standen sie nackt nebeneinander und umarmten sich im Stehen. Er merkte, dass seine Erregung sprunghaft anstieg, weil sie sich so an ihn drängte und abtastete, auch dort, wo es das Resultat besonders offensichtlich war. Viel zögerlicher als sie, begann nun auch er sie anzufassen und zu streicheln, erst ihre Schultern, dann den Rücken, den Po und schließlich auch die Brüste. Sie stöhnte, aber es kam ihm etwas gewollt vor. Nur als er sie küssen wollte, sagte sie, dass sie das nicht möge, und fügte gleich hinzu, dass sie ihm auch keinen Blasen würde, das möge sie auch nicht. Kurz darauf lagen sie nebeneinander auf dem großen Bett und war nun schon richtig geil und sie schien es zumindest auch zu sein, denn sie flüsterte Worte, die er nicht ganz verstand, aber die nach „komm, nimm mich, zeig es mir, ich will dich, endlich, mach schon“ klangen. Aber bevor er dies tun konnte, zog sie ihm noch ein Kondom über, das sie auf einmal in der Hand hatte, dann drehte sie sich auf den Bauch und sagte, dass dies ihre liebste Position sei. Er legte sich auf sie und drang in sie ein, ganz normal, halt nur von hinten. Der Schluss des Aktes war kurz, aber schön. Er brauchte nicht lange, um erfolgreich und folglich auch glücklich zu sein. Ob Angelique auch zufrieden war, wusste er nicht, sie hatte zwar die ganze Zeit vor sich hin gewimmert, sich aber selbst kaum bewegt und so glaubte er nicht, dass sie einen Orgasmus hatte, während er mit dem seinen durchaus zufrieden war. Nachdem alles vorbei war, stand sie auf und ging in die Nasszelle, während er, immer noch schwer atmend, liegen blieb. Dann kam sie zurück, und während sie sich anzog, fragte er endlich, warum sie zu ihm gekommen sei, ausgerechnet zu ihm. Ihre Antwort erfolgte fast beiläufig, als ob sie ohne große Bedeutung wäre. „Ich bin gekommen, weil ich ein Geschenk von dir erwarte. Wir waren eine halbe Stunde zusammen, dafür erwarte ich einen Hunderter. Ich bleibe auch länger, solange wie du willst, wenn du mir für jede Stunde ein neues Geschenk gibst, immer einen Hunderter.“ Er war irritiert. Es war ihm mittlerweile klar, dass sie Geld wollte, nur sein Geld, sonst nichts. Es wäre zu schön gewesen, wenn sie tatsächlich gekommen wäre, weil er solch einen guten Eindruck auf sie gemacht hatte. Ihr Kommen war aber aus denselben, eindeutigen Motiven erfolgt, wie bei jeder Nutte, und dass sie etwas wollte, hätte ihm von Anfang an klar sein müssen. Er ärgerte sich. Wahrscheinlich hätte er ihr sogar freiwillig ein Geschenk gemacht. Vielleicht nicht gleich hundert für weniger als eine halbe Stunde, so lange war sie noch gar nicht in seinem Zimmer. Warum hatte sie nicht vorher klar gesagt, was sie als Lohn wollte und warum nur, hatte er sie nicht gefragt?. Alles war so rasch und so überraschend erfolgt, dass er es einfach vergessen hatte. Vielleicht hatte er sich auch tatsächlich eingebildet, dass sie ihn wollte und nicht nur sein Geld. Also doch kein Märchen, dachte er. Er hatte sich zu unrecht eingebildet, dass er als Mann attraktiv war, ihr etwas geben konnte, das so etwas wie Liebe sein könnte. Er hatte sich zu unrecht vorgestellt, dass sie nur aus gegenseitigem Spaß vögeln könnten, ohne Verpflichtungen, ohne finanzielle Absichten, wie man so sagt. Ihre deutliche Forderung überraschte ihn mehr als die Höhe des Geschenks, das sie nun erwartete. Warum überhaupt ein Geschenk? Warum redete sie nicht einfach von Geld, von Lohn?. Er stotterte, warum sie denn sicher sei, dass er ihr das Geschenk gebe. „Wir hatten Spaß, du und ich und du bist anständig, sonst wäre ich nicht gekommen. Du zahlst freiwillig, weil du bekommen hast, was du wolltest und weil ich das Geld brauche. Claro?“ Und wenn nicht, wagte er einzuwerfen. „Wenn nicht, dann muss ich leider etwas direkter werden. Ich könnte dir Vergewaltigung oder etwas Ähnliches vorwerfen, du verstehst, das wäre für dich sehr unangenehm. Außerdem ist der Nachtportier mein Freund. Nicht so, wie du denkst, aber er hilft mir, wenn ich ihn brauche. Und außerdem, wenn du schon in dieses Hotel gekommen bist, hast du doch gewusst, was dich hier erwartet. Warum willst du jetzt anfangen Zicken zu machen? Du weißt doch, wie das hier abläuft oder etwa nicht? Also, gib mir die hundert und lass uns in Freundschaft auseinandergehen, denn mir hat es gefallen mit dir.“
Er gab ihr das Geschenk und war sich gar nicht mehr sicher, dass er gelinkt worden war, immerhin hatte er Spaß gehabt, immerhin hatte sie gegeben, was man erwarten konnte. Es war allenfalls etwas zu rasch abgelaufen, ohne Vorspiel und Nachspiel. Er verstand aber immer noch nicht, dass sie nicht gleich gesagt hatte, dass sie einen Hunderter haben wollte. Er fragte sie und ihre Antwort verblüffte ihn. „Erstens bin ich keine Nutte. Ich lebe davon, anderen etwas Schönes zu geben und sie geben mir dafür etwas zurück. Und zweitens ist das hier kein Bordell, sondern ein Love-Hotel. Es hätte doch die ganze Atmosphäre zerstört, wenn ich wie eine Nutte vorher Geld gefordert hätte. Der ganze Zauber wäre dahin, der Abend versaut, für dich und auch für mich. Hier, in diesem Hotel wird die Illusion so lange wie möglich aufrechterhalten, dass alles wirklich aus reiner Zuneigung geschieht. Die Illusion, ich sei nur wegen dir hier, nur weil du ein so toller, attraktiver Typ bist und ich unbedingt mit dir schlafen will. Das muss doch ein schönes Gefühl für dich sein, oder? Wenn ich dich direkt angebaggert hätte, wäre das zu primitiv gewesen. Deswegen der Trick mit dem Zettel. Ich hätte dich auch scheinbar unbeabsichtigt anrempeln können oder mir irgendein anderes, harmloses Ereignis ausdenken können, das zu einem Zusammensein führt, schnell als im wirklichen Leben und erfolgreicher. Du darfst aber nur am Anfang glauben, dass du alles umsonst bekommst, dass die Frauen nur darauf warten, mit dir zu vögeln, vielleicht sogar noch dafür bezahlen. Das wäre doch für einen Mann die geilste aller geilen Situationen. Du bekommst im Leben nie etwas umsonst, du musst immer bezahlen, direkt oder indirekt. Hier bezahlst du am Ende auch für deine Illusion, in Form eines freiwilligen Geschenks. Du, in deinem Alter, weißt doch selbst ganz gut, dass alles im Leben seinen Preis hat. Du hast jetzt das bekommen, was du wolltest und auch ich habe bekommen, was ich erwartet habe und was mir zusteht.“

Er war immer noch nicht ganz überzeugt und sah sie unsicher an. Deswegen fuhr sie fort, „Du bist neu hier? Zum ersten Mal in diesem Hotel? Ich habe dich jedenfalls hier noch nie gesehen. Ein Bordell ist das Hotel nicht, das würde anders funktionieren und es würde hier anders aussehen und auch ein anderes Publikum wäre hier und Gäste wie du, die tatsächlich hier nur schlafen wollen, würde man erst gar nicht aufnehmen. So wenig wie das ein Bordell ist, so wenig bin ich eine Prostituierte. Ich habe dir ja schon gesagt, das ist so etwas wie ein Love-Hotel, ein ganz neues Geschäftsmodell. Love-Hotels gibt es in großer Zahl in Japan. Dort treffen sich Pärchen, die sich kennen, weil in den Wohnungen zu wenig Platz ist, um sich ungestört zu lieben. Hier trifft man sich, weil man auf unkomplizierte und angenehme Weise fremd gehen kann. Das ist für viele Männer ein Bedürfnis und es hilft, dass ihre Ehe besser funktioniert, glaube mir es ist so, ich habe ein paar Semester Psychologie hinter mir. Der Spaß, mit einer anderen Frau als der eigenen zu schlafen, sollte unkompliziert und folgenlos sein. Ich meine jetzt nicht Schwangerschaft oder so etwas, sondern es sollten sich keine weiteren finanziellen Forderungen ergeben und auch keine Liebschaften, die alles verkomplizieren würden. Hier kommt man zusammen, es ist zeitlich begrenzt, eine Stunde oder eine Nacht, nur so lange, wie beide zusammen sein wollen. Hier kann man auch mit einer Partnerin herkommen, es ist aber kein Swingerclub, kein Partnertausch. Aber weil die meisten Männer, die fremd gehen wollen, keinen geeigneten Partner haben, bin ich hier und meine Kolleginnen. Wir sind Therapeuten, wenn du so willst, und arbeiten zum Wohl der Menschheit, auf freiwilliger Basis, aber nicht umsonst, weil auch wir leben müssen. Es ist wie bei einem Psychiater, der nichts anderes macht, als dir zuzuhören und dafür viel Geld kassiert. So ähnlich ist es mit uns, nur dass du ganz konkret etwas bekommst, etwas sehr Wertvolles, etwas was dir sehr hilft, sexuelle Erfüllung, wenn du so willst. Das Gefühl begehrt zu werden. Das Gefühl, für eine attraktive Frau interessant zu sein. Die meisten Männer die kommen sind älter, bei den jüngeren gibt es andere Möglichkeiten. Es kommen übrigens auch Frauen her, dann versuchen wir einen geeigneten Mann aus unserem Bekanntenkreis zu finden, auch so was Ähnliches wie einen Psychologen, keinen Loveboy. Es kommt vor, dass Frauen sogar eine Frau wollen, das machen wir auch. Nur für Homos ist das Hotel tabu, es gäbe zu viel Probleme, du glaubst ja gar nicht, was für eine Rolle in diesen Beziehungen die Eifersucht spielt. Hier läuft alles freiwillig ab, es gibt keine festen Preise, bis auf das Hotelzimmer selbst, keine festen Ansprüche. Und noch etwas ist wichtig. Hier herrscht das pure Matriarchat. Wir, die Frauen sind es, die die Männer aussuchen, Männer, die uns gefallen, von denen wir uns ein bisschen mehr als nur Geld versprechen. Du als Mann kannst uns nicht mieten, du musst uns überzeugen. Es kann schon sein, dass wir vorher reden, aber meist mit Kunden, die wir kennen, bei denen wir solche Spielchen wie mit dem Zettel nicht mehr brauchen, um ihr Selbstgefühl zu stärken.“ Er hatte sehr interessiert zugehört und überlegte sich, ob er nicht doch noch eine Stunde buchen sollte, die Frau interessierte ihn. Aber noch bevor er sich durchgerungen hatte, es zu tun, sagte sie: „Tschüss. Es war nett mit dir. Vielleicht kommst du mal wieder. Bei mir hättest du einen Stein im Brett.“ Dann ging sie, nicht ohne ihn noch einmal sehr herzlich anzulächeln.

Am nächsten Morgen war Monique nicht beim Frühstück. Er verbrachte den Tag mit seinem üblichen Programm, musste aber ständig an diese seltsame Begegnung denken. Irgendwie fand er die Erklärungen von Monique logisch. In unserer geordneten Welt, in unserem System mit festgefahrener Moral, fehlte ganz offensichtlich eine solche Möglichkeit. Am Abend, dem letzten seines Aufenthalts, saß er wieder im Restaurant und diesmal beobachtete er das Publikum genauer. Er fand weitgehend bestätigt, was Monique ihm gesagt hatte. Paare, die irgendwie nicht zusammengehörten, ein paar einzelne Männer, so wie er, und ein paar einzelne Frauen, vermutlich die Kolleginnen. Monique kam den ganzen Abend nicht und er vermisste sie, zugleich hatte er aber auch die leise Befürchtung, dass sie ihn nicht noch einmal auswählen würde, was ihn besonders geschmerzt hätte. Dann war es besser, sie blieb weg. Er konnte aber seine Phantasie nicht unterdrücken und stellte sich vor, wie sie wieder an seinem Tisch vorbeiging, einen neuen kleinen Zettel hinterließ und das ganze Spiel noch einmal stattfand. Nur in seinem Zimmer wäre er diesmal besser vorbereitet, diesmal würde er sich nicht so überrumpeln und rasch abfertigen lassen, diesmal würde er darauf bestehen, dass sie es mindestens die vereinbarte halbe Stunde trieben oder das Spiel gleich auf eine oder sogar zwei Stunden auszudehnen . Das Geld spielte doch keine Rolle, wenn das Ergebnis stimmte, redete er sich ein und seine Gedanken schweiften weiter und er tat alles, was ein richtig, toller Mann mit einer Frau wie Monique machen würde.

Während er aß, wieder recht vorzüglich, wieder mit viel Wein, das Hotel schien nicht nur mit den erotischen Möglichkeiten, sondern auch mit der Küche vermögende Männer anzulocken, beobachtete er das Verhalten der Anwesenden. Er stellte fest, dass die meisten Paare zusammen speisten und lange an den Tisch zusammenblieben und dass sich fast alle angeregt unterhielten, sie schienen sich gut zu verstehen. Die einzelnen Männer und Frauen fanden im Laufe des Abends ebenfalls zusammen, wie auch immer sie die Beziehung geknüpft hatten. Es war aber selten, dass sie zusammen speisten, sie verschwanden eher unvermittelt und kamen auch schon bald getrennt zurück, im Gegensatz zu den ungleichen Pärchen, die lange wegblieben und meist gar nicht mehr zurückkamen, wozu auch. In einem Fall beobachtete er, wie ein kleiner, fetter Glatzkopf, der Unmassen Fleisch in sich hinein geschaufelt hatte, ein fleischfressendes, hässliches Monstrum, einen Zettel entfaltete, den ihm eine falsche Blondine mit aufreizender Kleidung, schon fast eine Nutte, zugesteckt hatte. Der Zetteltrick funktionierte also. Der Dicke schaute die Frau, die wieder an ihren Platz zurückgekehrt war an, grinste breit und nickte ihr zu. Die Frau stand gleichgültig auf und ging in Richtung Toilette. Der Dicke aß zu Ende und ging dann in die gleiche Richtung. Es musste wohl möglich sein, auch über diesen Weg zu den Zimmern zu gelangen. Er hatte versucht, die eine oder andere der Frauen, sie waren alle etwa im Alter von Monique, mit Blicken auf sich aufmerksam zu machen, aber sie schienen ihn nicht zu bemerken oder sich nicht für ihn zu interessieren. Seltsam, dachte er, wie Frauen sein können. Warum merken diese Therapeutinnen nicht, dass ich ihre Hilfe brauche und auch bereit bin, die erwarteten Geschenke zu machen. Es war tatsächlich so, dass nur die Frauen bestimmten, mit wem sie zusammen sein wollten und er gehörte offensichtlich nicht zu ihren Favoriten. Es war aber auch so, dass mehr Männer als Frauen im Raum waren und auch andere vergeblich warteten und dann ergebnislos aufbrachen. Das Verhalten der Frauen ärgerte ihn trotzdem und er bestellte eine weitere Flasche Rotwein. Aber was hätte er tun können? Er war ja nicht im Bordell, wo er sich mit genügend Geld jede Frau kaufen konnte. Hier, das hatte er gelernt, konnte er das keineswegs, die Damen ließen sich nicht anheuern. Hier war er von ihrer Gnade abhängig. Ein seltsames Gefühl, das ihm gar nicht gefiel.

Am Ende des Abends war das Restaurant leer und er war allein übrig geblieben und mittlerweile auch ziemlich voll, weil er seinen Trost in dem guten Rotwein gesucht und gefunden hatte. Enttäuscht, unbefriedigt und mit schweren Schritten ging er auf sein Zimmer, legte sich in den Kleidern auf das Bett und schlief auch gleich ein. Er schlief aber schlecht durch, stand zwischendurch mehrfach auf, um zu pinkeln, beim ersten Mal zog er sich aus. Er war froh, als der Morgen anbrach und er wusste, dass bald das Frühstück bereitstand. Er duschte ausgiebig, zog sich an und packte seinen Koffer, viel hatte er ja nicht dabei. Zu der frühen Stunde war er nicht nur der erste, sondern auch der einzige Gast im Restaurant. Seinen ausgeprägten Kater konnte er erfolgreich mit viel Kaffee und reichlich Spiegeleiern bekämpfen. Dann bestellte er in der Rezeption ein Taxi, bezahlte seine Rechnung, genauer gesagt, er musste nur noch den Beleg für die Kreditkarte unterschreiben, und fuhr direkt zum Bahnhof. Sein Bedarf an Vergnügungen und Enttäuschungen war gedeckt und er hatte keine Lust mehr, einen weiteren Tag in der Stadt zu verbringen, weil er glaubte, inzwischen alles zu kennen, auch die verborgenen, geheimnisvollen Orte. So kehrte er früher als geplant und um eine wichtige Erfahrung reicher, in seine Wohnung zurück.

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Gedichte auf den Leib geschrieben