Alice war eine sehr attraktive, freundliche Dame Ende vierzig. Sie trug ihr langes, gewelltes, schwarzes Haar in einem zerzausten Knoten im Nacken gebunden mit einigen frei fallenden, lockigen Strähnen und ihr Mund war tiefrot geschminkt. Dazu verfügte Alice über eine Eigenschaft, die er in den vergangenen Monaten zunehmend zu schätzen gelernt hatte: sie war Buchhändlerin. Das war an sich war nichts Besonderes, aber ihm hatte diese berufliche Tätigkeit den Weg in ihr Bett geebnet. Fickt interessiert und warmherzig! hatte er sich gedacht, als er Alice das erste Mal aus beruflichen Gründen begegnete, so wie er jede Dame, die ihn innerlich berührte, in sinnlicher Phantasie unweigerlich einordnete. Nachdenklich, selbstbewusst, leidenschaftlich, einfühlsam, sinnlich, genussvoll, tiefgründig, warmherzig, offen, herablassend, unergründlich – die Einschätzung folgte unwillkürlich dem Maß an Sympathie und Nähe, die er verspürte in der ersten Begegnung. Natürlich konnte es keine Kategorisierung wirklich treffen. Menschen sind vielschichtig und Menschinnen noch viel mehr. Was sonst fast immer unausgesprochen, verborgen und hinsichtlich der Treffsicherheit seines Urteilsvermögens ungeklärt blieb, offenbarte sich ihm in glücklicher Fügung noch in dieser Nacht.
Er hatte alles auf eine Karte gesetzt und vor der ersten abendlichen Begegnung seinen Achselschweiß an Hals und Wangen verrieben, und tatsächlich, sie und andere Damen des Abends rückten auffällig nah an ihn heran, berührten ihn wie beiläufig, erlagen einer Verlockung, die sie, wüssten sie davon, brüsk zurückweisen würden. Als die Veranstaltung geendet hatte, bat Alice ihn mit zu sich, plauderte und flirtete gut gelaunt beim Cocktail und rückte auf der Couch ganz selbstverständlich an ihn heran, als würden sie sich schon lange kennen und lieben.
Dichterlesung
Geschichten vom Anfang der Leidenschaft
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