Nein, Irma verstand eher etwas von Stochastik, der so genannten „Kunst der Vermutung“. Petabytes von Datenbergen, über Jahrzehnte angehäuft, wurden endlich einer vernünftigen Bestimmung zugeführt. Real-Time-Übersetzungen von Telefongesprächen, egal von welcher in welche Sprache und zurück. Video-Simulationen, die lippensynchron Texte lesen. Sehen konnte Irma diese Simulationen natürlich nicht, aber sie hatte eine enorme Vorstellungskraft und konnte sehr gut erahnen, was es bedeuten könnte, wenn der künftige amerikanische Präsident auf Instagram oder wo auch immer von sich gäbe, Russland würde binnen weniger Wochen in Schutt und Asche gelegt. Der ahnungslose Präsident, irgendwo in Mar-a-Lago, Palm Beach, Austern schlürfend, rundherum eine wegen ihm rasende Welt, und er bekäme es womöglich nicht einmal mit, weil zu alt, zu taub und zu ich-bezogen.
Die Schnittstellen zwischen realer und virtueller Welt waren das, was Irma am meisten faszinierte, und sie wollte sich als Historikerin mit der Frage auseinandersetzen, wie es denn sein kann, dass noch vor 200 Jahren die meisten Menschen auf dem Planeten in Armut vor sich hinvegetierten und heute, mit titanveredelten Handys, in Strassencafés sitzen. Die Arbeit, die wahre, harte Arbeit, machen immer andere, keine Ahnung wer. Erschöpfte, ausgelaugte Bankbeamte zum Beispiel arbeiten ja nicht wirklich. Sie sind einfach zu wenig widerstandsfähig.
Dasselbe gilt für verwöhnte Lehrer und Projektmanager, die mit 50 das Zeitliche segnen. Sei's drum. Richtig harte Arbeit leisten hingegen Kinder, die nach seltenen Metallen suchen und in Minen verschwinden, ohne sie jemals wieder zu verlassen. So sah Irma das. Aber ansonsten war sie eine herzensgute junge Frau, die sich sogar mit einer Igelfamilie angefreundet hatte, die jeden Abend den Park von Irmas Eltern, den Vergani-Park aufsuchten, in der Hoffnung auf ein bisschen in Milch aufgeweichtes Brot, das ihnen Irma täglich liebevoll bereitstellte.
Die blinde Irma
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Die blinde Irma
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schön
schreibt Flo