Die Kunst, ruhig zu bleiben

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Die Kunst, ruhig zu bleiben

Die Kunst, ruhig zu bleiben

Chloé d'Aubigné

Doch nun hatte er seine Stimme wiedergefunden. Und ja, er wollte sich entschuldigen. Für ihr Verhalten, für den allgemein peinlichen Auftritt. Sie sei manchmal etwas… temperamentvoll. Aber ihr würde ja nur das Wohlergeben des Kindes wichtig sein. Dieses stehe für sie ständig im Mittelpunkt. Und sie beide, so versicherte er mir in blumigen Phrasen, würden es schätzen, wenn das Kind eine gute Ausbildung erhalten würde. Eine gute Ausbildung, wie ich sie dem Kind zukommen ließ.
Ob er damit Schadensbegrenzung betreiben und negative Konsequenzen für das Kind vermeiden, ob er sich wirklich für das Verhalten seiner Frau entschuldigen wollte oder ob er doch einen anderen Grund hatte. Warum er erschien, konnte ich nicht einschätzen.
Ich lächelte daher nur freundlich, verständnisvoll, wie es von mir erwartet wurde. Ganz unverbindlich. Dies gab mir die Chance, ihn anzusehen und zu mustern.
In seinen Augen sah ich eine tiefe Müdigkeit. Eine, die ich schon so oft gesehen hatte und somit sogleich wiedererkannte. Eine Müdigkeit, die sich auch durch Schlaf nicht vertreiben lässt. Aber ich sah auch ein Aufflackern, als er bemerkte, dass ich ihn ansah. Dass ich nicht durch ihn hindurchblickte, wie wohl so viele Personen in seinem Leben dies taten, sondern ihn wirklich ansah. Ich weiß, wie es ist, wenn man zu Hause nicht mehr wahrgenommen wird. Und wenn man gleichzeitig nichts unternimmt, um aufzufallen, weil man weiß, dass die Unsichtbarkeit die bessere Option ist. Dass jede Reaktion auf die eigene Existenz nur eine gereizte oder sonst wie unerwünschte wäre.
Wir verließen wenige Minuten später gemeinsam das Schulhaus, gingen zum Parkplatz und unterhielten uns dort noch ein paar Minuten. Über die Schule, den Lehrplan, das Wetter. Über Alltäglichkeiten. Während des gesamten Gesprächs hörte ich ihm aufmerksam zu, ging auf ihn ein. Ich gab ihm das Gefühl, dass mir seine Meinung wichtig war. Ja, ich führte das Gespräch über die Alltäglichkeiten so, dass ich immer deutlicher fühlen konnte, dass er mich am liebsten ganz andere Dinge gefragt hätte. Dass er mir viel lieber ganz andere Dinge gesagt hätte.

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