Die Lyrikerin

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Die Lyrikerin

Die Lyrikerin

Tom Parker

Wagners Telefon drehte sich brummend auf der Tischplatte wie ein aufgeregtes Insekt. Er verließ mit einer entschuldigenden Geste den Raum.
Wir sahen uns an. Sie mochte Ende dreißig sein, nicht dick, nicht dürr. Ihr einfaches Kleid war in einem ausgewaschenen Blau mit weißen Punkten gehalten, was ihrer Erscheinung Frische verlieh. Die bloßen Arme schimmerten in einem sanften Bronceton, die Haare fielen als dunkler Lockenschleier über die schmalen Schultern.
Sie erhob sich: „Es ist warm hier. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich das Fenster öffne?“
Ich konnte nur den Kopf schütteln.
Sie ging zum Fenster, ohne dass ihre großen Augen mich losließen. Ein Hauch von Lächeln umspielte ihre Lippen, als sei sie vergnügt.  
Freude dehnte meine Brust und ein blödes Grienen stahl sich in mein Gesicht, als hätte ich zu viel getrunken. Vielleicht war die Heiterkeit auch von der Bande tschilpender Spatzen hereingetragen worden, die den Buchenast vor dem Fenster mit Leben überzogen.
Draußen auf dem Gang steigerte sich Wagners Gemurmel und wir hörten: „Wenn das so ist, erwarten die, dass Sie sich darum kümmern …“ Die Spatzen vor dem Fenster schwirrten davon. Wagner wurde laut: „Um Himmels Willen. Reden und Taten gehören zu …“ Irgendwo im Haus schlug eine Tür. Wagners Stimme war jetzt leiser und schien entfernt.
Mitten in unserem verschränkten Blick lauschte ich dem gedämpften Rauschen der Buche, das nur von Wagners Uhrentafel mit Fallanzeige unterbrochen wurde, die jede Minute mit einem leisen „Flap“ quittierte.
Ihr Blick wirkte kühl. Trotzdem spürte ich, wie langsam eine Hitze meine Backen erreichte, und ich bemerkte, wie ich automatisch den obersten Knopf meines Hemdes öffnete.
Sie stand auf, kam langsam auf mich zu und blieb vor mir stehen. Nach einer Weile sagte sie: „Schön, nicht wahr.“
Flap. 21.12 Uhr.
In meinem Kopf entstand ein Wirbel und wir redeten zugleich, um sofort wieder zu stocken.

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