Die Lyrikerin

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Die Lyrikerin

Die Lyrikerin

Tom Parker

„Dann zieht ihr gerade um?“
„Wir sind schon im Neubau. Unser Seniorchef hängt an diesem Haus, in dem alles begann und es fällt ihm schwer, zu gehen. Spätestens, wenn kommenden Montag die Bagger anrücken, wird er in den sauren Apfel beißen müssen.“
„Er wirkt nett, dein Seniorchef. Obwohl er unter Druck stand, war es ihm wichtig, wie ich ins Hotel komme.“
„Ich halte ihn für einen guten Chef, weil er nicht nur das professionelle Potential der Mitarbeiter sieht, sondern immer auch deren Persönlichkeit. Er versucht, allen hier auf Augenhöhe zu begegnen.“
„Verstehe“, murmelte sie: „Du magst ihn?“
„Ich respektiere ihn, weil er versucht, fair zu sein, weil er nichts von Machtspielchen hält. Man kann mit ihm vielleicht nicht über alles reden, aber doch über sehr viele Dinge. An welchem Arbeitsplatz hast Du so rasch Zugang zu einem der Entscheider? An welchem Arbeitsplatz wirst Du als Mitarbeiter ernst genommen? – Aber ich rede für deinen Geschmack wohl zu viel, wir sollten los?“  
Sie musste lachen. „Du liegst mit deiner Vermutung richtig und falsch. Einerseits würde ich gerne noch mit dir plaudern. Andererseits bin ich reif fürs Bett.“
„Das Bett wird warten müssen. Wagner hat den Dienstwagen genommen und meiner ist nach einem Rückruf in der Werkstatt.“
Sie lächelte. „Dann nehmen wir die Bahn.“
Ein angeregtes Geplauder später waren wir kurz vor dem Bahnhof und mussten die letzten Meter sprinten. Gemeinsam mit einigen jungen Leuten erreichten wir eine Tür des Zuges. Gleich hinter uns drängten Fahrgäste. Ich zögerte, mich zwischen die vor mir dicht gedrängt stehenden Fahrgäste zu bugsieren, als ich von hinten einen Stoß erhielt und unter Verletzung des Mindestabstandes von ich weiß nicht wie vielen Personen mitten unter sie geschoben wurde. Schließlich stand ich nach Luft ringend zwischen einer älteren Dame mit gegelten Haaren, die wie die Borsten eines wütenden Stachelschweins von ihrem Kopf abstanden und einem Rotschopf mit milchigem Teint und einem spiegelglatten, nackten Bauch. Die Dubois war in dem Gedränge nicht auszumachen. Richtig, ihr Vorname war Geraldine, geboren in Aix-en-Provence.

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