Die Lyrikerin

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Die Lyrikerin

Die Lyrikerin

Tom Parker

Nachdem Wagner sie nur kurz als Geraldine Dubois vorgestellt hatte, trug sie jetzt schon eine kleine Weile mit ihrer warmen Altstimme vor. Die den kahlen Raum dürftig erleuchtenden Kerzen flackerten, während der kurzen, heftigen Böen, wie sie manchmal einem Gewitter vorausgehen und Wagner hatte das Fenster geschlossen. Der Wind harfte in den Leinen der Verschattung, als die Dubois ihre Lesung beendete. Sie schloss ihr Notebook und richtete sich ein wenig auf, wie Menschen, die Schwierigkeiten erwarten.
Wagner machte eine Handbewegung, die wohl bedeuten sollte, jetzt beginne mein Beitrag. Ich sagte: „Mir gefällt ihre Art wie Sie Dinge zur Sprache bringen oder besser gesagt unserer Alltagssprache abringen. Wer sich ihren Texten anvertraut, kann eine Menge erleben und wird angestiftet, anders als üblich zu denken.“
Wagner nickte. „Was hat Sie besonders angesprochen, Herr Anders?“
„Frau Dubois hat zum Beispiel in dem Gedicht ‚Lichtung‘ beschrieben, wie sich ein Wald dem Bach nähert, von dem er einst zurückgedrängt wurde, wie er die von Köhlern geschaffene Lichtung wieder begrünt und mit seinen Kronen versiegelt. Ich sehe Bäume wachsen in heißen Sommern, in kühlen Sommern, wie sie im Regen rauschen, in der Kälte stehen. Und dann schafft sie es, dass ich aus meiner Betrachtung gerissen werde und mitten auf diese Lichtung purzele.“
Wagner lächelte: „Und erschrecken Hase und Reh. Aber Scherz beiseite, Herr Anders, wenn Sie noch ein Wort sagen könnten, wo Sie den Text – sagen wir: nachbarschaftlich - verorten.“
„Mir scheint, es handelt sich um solitäre Formen, entfernt erinnern mich einige der Gedichte an Kurzgeschichten von Kafka.“
Frau Dubois lächelte. „Könnte diese Einordnung mehr ihrer Vorliebe für Kafka geschuldet sein als meinem Versuch über die Beziehung zwischen Menschen und Natur.“
Ich hob abwehrend beide Hände: „Ihre Bescheidenheit ehrt Sie, aber wenn Sie in einem Gedicht Spannungen entwickeln, die zu einem Jetzt hin aufgelöst werden und damit ihre Leserschaft tiefer in ihre Geschichten ziehen, lassen Sie mich, mehr noch als an einige Kurzgeschichten Kafkas, an die Form des japanischen Senryū (sprich: Senry) denken.“

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Gedichte auf den Leib geschrieben