Sei es nun beim abendlichen, gemeinsamen Gebet, oder bei den gemeinsamen Mahlzeiten.
Am Nachmittag forderte ihn Graf Nikolai zum Schachspiel auf, bei dem er sehr unaufmerksam war.
„Prior Kyrill, Sie sind mit ihren Gedanken ganz wo anders. Schachmatt!“
„Mein Sohn, ich weiß das. Ich habe leider große Probleme, Sie wissen schon, das Kloster und die Mitbrüder. Der Abt ist krank, ich muss mich um alles alleine kümmern. Ich habe gar keinen Kopf für unser kleines Abenteuer, das wir inszeniert haben. Meine Gebete ziehen sich in die Länge, weil ich Zwiesprache mit Gott halten muss. Das Böse ist immer und überall, in uns, um uns…“, er brach ab.
Graf Nikolai starrte ihn an. Was war bloß los? Es war ja schließlich Prior Kyrill, der darauf gedrängt hatte, dass er hierherkam und dass er Madame überreden sollte, ihm Lydia nachzuschicken. Abgesehen davon, dass ihm dieser Plan ein kleines Vermögen gekostet hatte, war er mühevoll und gefährlich. Der Prior hatte sich verändert. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und seine Augäpfel glänzten fiebrig. Sie brachen das Schachspiel ab.
In seinem Gästeraum zurückgekehrt warf er sich aufs Bett und starrte an die Decke. Eigentlich war es ihm nur Recht, wenn er Lydia ganz für sich alleine hatte. Er machte sich bisher keine Gedanken darüber, an welche Männer sich Lydia sonst noch verkaufte, doch hier war das anders. Er war mit ihr sozusagen alleine da, weit weg von Madame und dem Bordell und es begann, ihm zu gefallen. Er begann sich auszumalen, wie er die heutige Nacht gestalten wird.
Kyrill kniete auf seinem Betschemel und hielt Zwiesprache mit dem Kruzifix an der Wand, als es an seiner Türe klopfte. Der Besucher wartete gar nicht ab, dass er die Türe öffnete, er trat unmittelbar darauf ein. Kyrill drehte sich kniend um und blickte zur Türe. Im Türrahmen stand Pawlow. Die untergehende Sonne hüllte seine Gestalt von rückwärts in ein Purpurrot und sein Gesicht lag im Schatten.
Die Mutter Oberin
Das Etablissement II
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Die Mutter Oberin
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