„Darf ich... darf ich ihn sehen?“ fragte sie, ihr Blick bohrte sich in die Dunkelheit, wo ich stand. „Darf ich den Patienten besuchen?“
Ihre Stimme war ganz weich, fast flehend. Ich antwortete nicht, versuchte nur, ihr Gesicht in der Dunkelheit zu erkennen, während der dumpfe Schmerz zwischen meinen Beinen mit jedem Herzschlag pulsierte. Die Mullbinde war schwer von Blut und Wasser. Trotzdem erhob sie die Mumie in der Finsternis. Und ich hoffte nur, dass Lisa es nicht sah. Doch sie stellte erleichtert fest: „Immerhin lebt er noch.“
Lydia beobachtete uns von der Bank aus, reglos, ihr Weinglas in der Hand vergessen. Ihr Gesicht war ein Ausdruck eisiger Aufmerksamkeit, das im Licht der flackernden Kerze irgendwie bedrohlich wirkte.
Ich nickte als Antwort auf Lisas Frage. Natürlich konnte sie den Patienten besuchen und sich das Ergebnis ihrer explodierten Leidenschaft, ihrer zerstörerischen Fantasie … oder wie auch immer man es bezeichnen mochte, was sie mit mir gemacht hatte, ansehen. Ich nahm an, dass sie den nächsten Tag meinte, und befürchtete, dass sie es bis dahin schon wieder vergessen hätte, oder sich aus Scham dann nicht mehr sehen lassen würde. Doch mein langsames, bedächtiges Kopfnicken war alles, was Lisa brauchte. Wie bereits am Nachmittag kletterte sie über den Zaun, diesmal nicht unsicher und zitternd, sondern geschmeidig wie eine Katze, und kniete sich neben mich ins feuchte Gras. Ihre Hände zögerten nur einen Augenblick, dann griffen sie in der Finsternis nach der Mullbinde. Ihre Finger waren kalt. Sie löste behutsam tastend die Sicherheitsnadel, begann die feuchten Lagen abzuwickeln. Langsam. Vorsichtig. Der Geruch von Desinfektionsmittel und altem Blut stieg auf, scharf in der Nachtluft. Lydia lehnte sich vor, ihr Atem stockte.
Die letzte Schicht fiel ab. Die Wunde lag frei und das Licht einer Taschenlampe richtete sich darauf. Ein hässliches, geschwollenes Loch in der Mitte meiner Eichel, umgeben von rotem, entzündetem Fleisch und verkrustetem Blut. Lisa stieß einen kleinen, scharfen Atemzug aus. Kein Ekel. Faszination. Ihre Finger, immer noch kalt, berührten die Ränder der Wunde vorsichtig. Ein Zucken jagte durch mich. Sie sah nicht zu mir auf. Ihr ganzer Fokus lag auf dem Verwundeten, auf dem Werk ihrer eigenen Hände.
Die Nachbarin … und Lisa
22 60-92 Minuten 1 Kommentar

Die Nachbarin … und Lisa
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Ob ich das hier lesen will?
schreibt ETroisfils