Lächelnd, aber kühl und unnahbar stand sie da, den einen Arm auf eine undefinierbare Schaufensterrequisite aufgestützt. Ihre Lippen waren zartrosa geschminkt und halb geöffnet. Ausdrucksvolle Augen, Schlafzimmerblick. Ihre dunkelblonden, gelockten Haare umrahmten ein weich gezeichnet Gesicht und wallten über die nackten Schultern. Ihre Brüste waren von einem kurzen, hellblauen Hemdchen knapp bedeckt; ein gleichfarbiger Slip, der schon bald keiner mehr war, verhüllte die Schamgegend. Smyrna – nennen wir sie so – war vom Geschäftsinhaber dazu bestimmt worden, zwischen netzstrumpfbekleideten, angewinkelten, abgetrennten Beinen für hauchzarte Unterwäsche zu werben – ein meiner Ansicht nach völlig sinnloses Unterfangen, da man tagsüber das teure Dessous ja doch nicht zu sehen bekommt. Zudem hat mich mein Mann am liebsten nackt.
Nein – das Besondere an Smyrna war nicht das, wofür sie werben sollte, sondern die unwahrscheinliche Anziehungskraft, die sie auf unschuldige, gedankenversunkene Passanten ausübte. Die Phantasien, die sie weckte, gebe ich hier lieber nicht wieder; ich möchte zu dieser Erzählung auch vor meinen Kindern und Kindeskindern noch stehen können.
Manch einer opferte fünf oder zehn Minuten seiner Mittagspause, bloss um an Smyrnas Schaufenster zu lehnen und so zu tun, als warte er auf jemand. Andere wieder verlängerten ihren Arbeitsweg, um frühmorgens einen flüchtigen Blick auf sie zu werfen; vielleicht auch, um sich zu vergewissern, dass sie noch da war. Immer häufiger konnte man auch beobachten, wie während des Abendverkaufs verärgerte Frauen ihre Männer energisch vom besagten Schaufenster wegzogen, genau so, wie Mütter ihre Söhne manchmal von der Spielwarenabteilung wegzerren.
Ich muss zugeben: Auch ich war fasziniert von Smyrna. Ihresgleichen hatte ich noch nie in einem Schaufenster stehen sehen – und neulich hatte ich sogar das Gefühl, dass ihre Augendeckel leicht bebten.
Trotz der eingangs erwähnten Sinnlosigkeit (in meinen Augen!) von Smyrnas Unterwäsche fand besagte Garnitur seit Wochen reissenden Absatz – Kunden waren ausschliesslich Männer, die vordergründig ihren Frauen zuhause eine kleine Freude bereiten wollten und hintergründig irgendwann in der Nacht ihre private, kleine Smyrna vögelten.
Die Schaufensterpuppe erzeugte sogar Hassgefühle: bei den Frauen, die ihre Männer schon zum dritten- oder viertenmal von Smyrna wegziehen mussten. In einem besonders tragischen Fall kam es sogar zur Scheidung: Es handelte sich um ein Paar, das seit vielen Jahren glücklich zusammen lebte, bis er die Schaufensterpuppe auf dem Weg zur Arbeit zum ersten Mal sah. Besagter Mann war von Natur aus eher scheu. Da er in der Mittagspause den Betrieb nicht verlassen durfte – er war Hilfskoch – verlängerte er am Abend jeweils seinen Nachhausweg, um beim ominösen Strumpfgeschäft vorbeizuschauen. Dies bedeutete für ihn aber, dass er jeweils den Zug verpasste und seine Frau mit dem Abendessen auf ihn warten musste.
Irgendwann kamen ihr seine ständigen Entschuldigungen verdächtig vor, und sie entschloss sich, ihrem Mann nachzuspionieren. Vor dem Strumpfgeschäft kam es dann zur Explosion: Die Frau erfasste die Zusammenhänge sofort, schoss aus ihrem Hinterhalt, einer Litfasssäule, hervor und zertrümmerte vier von sechs Hühnereiern an den Glasscheiben des Strumpfgeschäfts. Die beiden letzten, die sie, bebend vor Wut, aus ihrer Einkaufstasche hervorkramte, zerklatschte sie auf dem Kopf ihres verdutzten Mannes.
Lächelnd, aber kühl und unnahbar wandte sich Smyrna um, verliess mit wippendem Gang ihr Schaufenster und ward nicht mehr gesehen.
Die Schaufensterpuppe
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