Die Traumfrau

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Die Traumfrau

Die Traumfrau

Birgit Enser

Jede Nacht versuchte er, ihr näher zu kommen.
Vor drei Nächten hatte es angefangen. Er wähnte sich allein, nachts auf dem einsamen Waldweg. Doch plötzlich hatte er sie gesehen, die wunderschöne Frau, der er seitdem Nacht für Nacht heimlich hinterher schlich.
Was tat bloß eine junge Frau so mutterseelenallein nachts im Wald? Sie schien überhaupt keine Angst zu haben, schien stets sicher ihren Weg zu finden.
Beim ersten Mal hatte er sie dann jedoch verloren, als eine Wolke sich vor den silbrigen Mond schob.
In der nächsten Nacht wartete er schon auf sie an genau dieser Stelle.
Er hoffte sehnsüchtig, sie würde wieder dort sein und tatsächlich, er musste nicht lange warten, bis er sie endlich zwischen den dichten Bäumen hervorkommen sah.
Er versteckte sich schnell hinter einem dichten Busch und hielt vor lauter Angst, sie könne ihn entdecken, den Atem an. Sein einziger Gedanke war, dass er hinter ihr Geheimnis kommen wollte.
Denn dass es ein Geheimnis geben musste, war ihm klar.
Dieses Mal konnte er sie einen kurzen Moment betrachten. Sie war die schönste Frau, die er je gesehen hatte, mit langen, schwarzen Haaren, in die sie sich kleine, weiße Blumen eingeflochten hatte. Ihr Kleid war dunkelrot und reichte ihr bis zu den Knöcheln, ihre Füße waren nackt.
Der Mann sah sich um, ob vielleicht doch jemand anderes in ihrer Nähe war, aber sie schien wirklich allein zu sein. So schlich er ihr wieder wie hypnotisiert nach.
Einmal knackte ein Zweig laut unter seinem Schuh, und er blieb voller Schreck stehen, aber sie lief weiter, völlig in sich selbst versunken.
Nach ungefähr einer Stunde erreichten sie eine Lichtung mit einem kleinen Teich. So weit war er noch nie in den Wald vorgedrungen, und er fragte sich besorgt, ob er den Weg zurück auch finden würde, denn eigentlich hatte er sich immer nur auf sie konzentriert, und sie anzusprechen, um nach dem Weg zu fragen, das wagte er nicht.
Als sie dann leise anfing zu summen, blieb er in einiger Entfernung zwischen den Bäumen stehen. Sie begann sofort, sich langsam auszuziehen, ließ ihr Kleid achtlos am Boden liegen und ging ins Wasser.
Plötzlich hörte er ein Geräusch hinter sich, als ob jemand durchs Unterholz schleichen würde. In Panik suchte er mit seinen Augen den Wald hinter sich ab, sah aber nur die gespenstischen Umrisse der Bäume.
Und als er sich wieder der jungen Frau zuwendete, war sie fort.
In der nächsten Nacht wollte er sich durch nichts irritieren lassen. Er hatte sich den Weg zu der Lichtung mit dem Teich gemerkt, also wartete er schon dort, geschützt durch seine schwarze Kleidung.
Es ging schon auf Mitternacht zu, als er sie endlich sah. Sie ging so nah an ihm vorbei, er hätte die Hand nach ihr ausstrecken können, und er glaubte sogar, ihren Duft wahrnehmen zu können.
Wieder zog sie sich am Ufer aus, ließ ihr Kleid fallen, und er bewunderte ihren makellosen, weißen Körper.
Sie ging ins Wasser, summte eine Melodie, die ihm wage bekannt vorkam, reckte ihre Arme gen Himmel und tauchte unter Wasser.
Lachend kam sie wieder an die Oberfläche, schwamm ein paar Züge, drehte sich dann um und ließ sich träge auf dem Rücken treiben.
Der Mann konnte ihr einfach nur fasziniert zusehen, alles schien so unwirklich, der Mond, dessen Schein sich im Wasser spiegelte, das leise Rauschen der Baumkronen über ihm.
Was um Himmels Willen hatte dies alles nur zu bedeuten?
Wie von einem Magneten angezogen, ging er in Richtung des Teiches und starrte gebannt, doch auch voller Angst in dieses dunkle, nachtschwarze Gewässer, dem nur der Mondschein einen Hauch von Licht gab. Und gerade dies machte die ganze Sache so gespenstisch, denn es sah aus, als sei der Mond irgendwo dort unten versunken.
Plötzlich hörte er ihre helle Stimme: "Warum kommst du nicht zu mir? Ich warte schon so lange auf dich."
Sie stand in der Mitte des Teiches, er konnte gerade eben ihre Brüste sehen und ließ ihre Hände selbstvergessen über das Wasser gleiten.
"Es ist einfach wundervoll hier drin, so warm und weich. Komm doch her, zier' dich nicht." Sie lächelte.
Sie musste sein Furcht bemerkt haben, denn sie schüttelte nur traurig den Kopf.
"Ich ... ich kann nicht," stotterte er herum. "Ich kann gar nicht schwimmen. Man kann nichts sehen. Was, wenn ich im Schlamm versinke? Ich habe Angst vor dieser Dunkelheit!"
"Warum folgst du mir dann jede Nacht?"
"Das hast du gemerkt? Warum hast du mich nicht angesprochen? Komm doch aus dem Wasser, bitte. Ich möchte dich gern kennenlernen."
Die Frau sah plötzlich unendlich traurig aus, und der Mann hörte wie aus weiter Ferne Vogelgezwitscher. Die Vögel wurden lauter, und langsam breitete sich grauer Nebel um ihn herum aus.
"Nein," dachte er. "Nein, nicht schon wieder. Geh' nicht weg! Werd' ich dich wiederseh'n?"
"Das liegt bei dir."
Nur noch leise drangen ihre Worte durch den dichten Nebel zu ihm.
Das Zwitschern der Vögel drang immer eindringlicher an sein Ohr, und er erwachte mit dem Gefühl, versagt zu haben.

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