Unter den wichtigsten Kunden war der Bürgermeister der umliegenden Dörfer sowie des benachbarten Städtchens, ein hagerer, gut aussehender Mann um die 40. In der Morgenkälte zog Sabea ihr Leiterwägelchen mit den Milchkannen hinter sich her und hatte starkes Herzklopfen, als sie sich dem herrschaftlichen Haus der Bürgermeisterfamilie näherte. Sie wusste um die beiden gefährlichen Hunde, die dem Postboten, dem Fleischer und dem Bäcker, die ebenfalls ihre Produkte an die Haustür lieferten, das Leben schwer machten. Zwischen fünf und sechs schliefen die beiden Köter jedoch tief und bewegten ihre feuchten Lefzen nur im Traum ein wenig. Trotzdem ging Sabea jedes Mal auf Zehenspitzen aufs Haus zu, damit die Tiere nicht durch knirschenden Kies auf sie aufmerksam wurden. Vor ein paar Monaten hatte ihr Herr Lander die Tür persönlich geöffnet. Im Morgenmantel war er vor ihr gestanden, hatte sie freundlich angelächelt und ihr sogar die Hand gereicht. "Schöne Grüsse an deinen Vater!" hatte er ihr ausgerichtet. Sabea hatte diesen Gruss nie weiter geleitet – aus purer Verlegenheit. Tags darauf hatte Herr Lander sie herein gebeten. In der Küche stand eine Tasse dampfender Schokolade, extra für sie. So viel Aufmerksamkeit war Sabea noch nie zuteil geworden. Während sie den Kakao schlürfte, setzte Herr Lander sich zu ihr an den Tisch. Sabea erzählte von ihren Schwestern, dem entbehrungsreichen Leben in der kleinen Hütte und von Lisa, der Ziege, die aufgrund einer Euterentzündung nicht mehr gemolken werden konnte. Sie schilderte diese Begebenheiten ohne einen Anflug von Wehklagen, sondern als Tatsachenbericht. So waren sie einander näher gekommen, das Ziegenmilchmädchen und der Bürgermeister. Eines Morgens führte Herr Lander Sabea in den Keller. Es handelte sich um ein geräumiges Gewölbe mit einer Grundfläche, die um ein mehrfaches grösser war als Sabeas Zuhause.
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