Die Zunft stöhnender Frauen

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Die Zunft stöhnender Frauen

Die Zunft stöhnender Frauen

Anita Isiris

In einem abgelegenen Dorf lebte einst ein Ziegenhirt mit seiner Frau und sechs Töchtern. Die Älteste hiess Sabea und war die schönste von ihnen. Die Familie war bitterarm; schwerlich liessen sich sieben Frauen mit dem spärlichen Erlös, der durch den Verkauf von Ziegenmilch zustande kam, ernähren. Im trüben Licht der Petroleumlaterne besprach der Ziegenhirt sich eines Abends mit seiner Frau. Draussen tobte ein Sturm und Jonston, so war der Name des Familienvaters, hatte schon mehr als einmal das gesamte Strohdach ersetzen müssen, das seiner Familie Schutz und etwas Wärme bot. Dass das Leben so nicht weiter ging, war beiden klar. Sie liebten ihre Töchter über alles, und wenn sie ihnen eine halbwegs menschenwürdige Existenz sichern wollten, musste eine bisher unerschlossene Geldquelle angezapft werden. Sabea war im heiratsfähigen Alter. Nina, Maute, Orina, Katja, Livia und Inger würden hingegen noch eine ganze Weile im elterlichen Haus leben wollen. Sollte Sabea tatsächlich heiraten, zum Beispiel Holger, den jungen Fischerssohn, würde das erst recht den Ruin von Jonstons Grossfamilie bedeuten. Eine mögliche Aussteuer, die in diesem Fall zu entrichten wäre, bereitete dem Familienvater schon jetzt schlaflose Nächte. Er wusste, dass Dragana, seine Frau, dasselbe dachte wie er. Sabeas Körper, ihre Anmut waren letztlich das Verdienst der beiden Eltern, die in entbehrungsreichen Jahren immer wieder das spärlich gesäte Schöne und Gute ihren Kindern hatten angedeihen lassen. Sabeas erblühende Schönheit sollte sie nicht in ein schwarzes Hungerloch treiben, indem sie die Tochter verheirateten, sondern ihnen allen ein wenig Glück unter das Strohdach bringen, an dem der Wind immer stärker rüttelte. Dragana seufzte. "Sabea wird ihre Würde verlieren", sinnierte sie. "Ihr Blick wird abstumpfen; sie wird an Gewicht zunehmen und in ihrem Schoss werden sich Krankheiten ausbreiten." Jonston schauderte.

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